Von den Reförmchen zur Reform

Eine Gesundheitsreform steht schon lange an, das merken die Wähler. Da Regieren hierzulande von Reagieren kommt, muss es überhaps gehen!

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   Auch diesmal droht, dass Geschwindigkeit mehr zählt als Vernunft. Will man aber ein solidarisches Gesundheitssystem erhalten, dann wird man sich Zeit nehmen müssen. In einem transparenten Meinungsbildungsprozess muss eine für alle Österreicher – für die, die bezahlen, genauso wie für die, die profitieren – tragfähige Zieldefinition entstehen. Erst wenn man weiß, was man vom Gesundheitssystem erwartet, kann man Umsetzungspläne schmieden. Realistisch wird man für die Zieldefinition fünf Jahre und für die Konkretisierung noch einmal fünf weitere brauchen. Darunter ist an eine substantielle Reform gar nicht zu denken. Konsequenterweise bedeutet das aber auch, dass bis dahin das alte System ausfinanziert wird – koste es, was es wolle!

   Weil die Politik dazu neigt, populistische Reförmchen anzugehen, ist es nötig eine „Kontroll-Instanz“ einzusetzen. Man sollte einen unabhängigen Weisenrat installieren, dessen einzige Aufgabe es ist, das „vernünftige Gewissen“ der Reform zu sein. Keinesfalls dürfen diese Weisen aber aus den bestehenden Machtkomplexen, also Kammern, Gewerkschaften, Ländern etc. kommen. Der Weisenrat soll auf Basis seiner Expertise so oft wie möglich – insbesondere in den Medien – seine Meinung kundtun und freimütig den Reformprozess kommentieren. Und damit diese „Weisen“ sich das trauen, wird es nötig sein, ihnen unkündbare, gut bezahlte Verträge für wenigstens drei Legislaturperioden zu geben.

   Um den breitest möglichen demokratischen Konsens zu erzielen, ist eine Steuerungsgruppe einzurichten, in der alle Budget- und Gesundheitssprecher aller parlamentarischen Parteien von der Bundes-und Landesebene vertreten sind. Die Steuerungsgruppe soll auf folgende fünf Fragen populismusfreie Antworten geben.

   Was gehört zur Gesundheitsversorgung (Prävention, Kuration, Rehabilitation, Pflege, Palliation; alles oder nur Teile) und was davon soll öffentlich sein?

   Wer darf unter welchen Umständen und nach welcher Methode diese Auswahl treffen?

   Wer darf unter welchen Umständen und nach welcher Methode feststellen, ob die Patienten auch das erhalten, was sie brauchen?

   Wer darf unter welchen Umständen und nach welcher Methode feststellen, wie viel solidarisch aufgebrachtes Geld zur Verfügung steht?

   Wer darf unter welchen Umständen und nach welcher Methode festlegen, wer in welcher Form welchen Anspruch hat?

   Jede dieser fünf Fragen wird eine Fülle von Detailfragen aufwerfen, die nur unter Einbindung von Sozialversicherungen, Interessens- und Standesvertretungen sowie den Patientenvertretern beantwortet werden können. Um „Geheimdiplomatie“ hintan zu halten, sollten diese in Arbeitsgruppen organisiert werden. Dort sollen dann im durch die Steuerungsgruppe festgelegten Rahmen die Details des neuen Systems maßgeblich bestimmt werden.

   Nach vielen Abstimmungen und Verhandlungen wird die Steuerungsgruppe ein Gesetzeswerk vorlegen, das auf den Antworten aufbaut und das neue System normiert. Dieses Gesetzeswerk ist letztendlich in einer All-Parteien-Einigung im Verfassungsrang zu beschließen.

   So könnte man tatsächlich eine richtige Reform angehen. Allerdings klingt dieser Weg für den gelernten Österreicher so fremd, dass er sicher keine Chance hat. In der Wirklichkeit wird es weitere nicht nachhaltige Reförmchen geben, bis das solidarische Gesundheitssystem endgültig zusammenbricht – und dann wird sich der freie Markt den Gesundheitsbereich zurückerobern

„Wiener Zeitung“ Nr. 108 vom 03.06.2008