Die Konkretisierung der Gesundheitsreform – chronisch entzündliche Darmerkrankungen

Durch die Gesundheitsreform sollen Patienten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle– genannt: „Best Point of Service“- behandelt werden.

Die Institutionenorientierung (Spitalsstandorte und Kassenplanstellen) soll zugunsten einer integrierten Versorgung beendet werden: Patienten sollen zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle– genannt: „Best Point of Service“ – behandelt werden. Wo das ist, wird nicht dekretiert, sondern ist dezentral, auf Ebene der Versorgungsregionen (VR) des ÖSG (hier der letzte Verhandlungsstand) – davon gibt es 32 – festzulegen.

Die ambulante Versorgung ist der stationären vorzuziehen– das bedeutet, dass die ambulante Versorgung durch Spitalsambulanzen und Kassen(fach)ärzte bedarfsorientiert auf-, aus- und umgebaut wird. Gruppenpraxen werden dabei eine wichtige Rolle spielen. So soll auf Sicht eine fachärztliche Versorgung gewährleistet werden, die nicht nur Ballungsräume bevorzugt. An den Abbau von Hausärzten denkt definitiv niemand –im Gegenteil.

Was die Zielorientierung betrifft, die beim Aufbau der integrierten Versorgung ebenfalls vereinbart ist, werden zentral Rahmenziele aufgestellt, die dezentral – also wieder in den 32 VR – unter Berücksichtigung regionale Besonderheiten zu konkretisieren sind. Es sind keine „zentralistischen“ Diktate, sondern praxis- bzw. wirkungsorientierte Rahmenvorgaben angedacht.

 Klingt abstrakt! Stimmt – und wie könnte das konkret aussehen?

Betrachten wir Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen CED (Collitis Ulcerosa und Morbus Crohn)

 Etwa 40.000 Menschen leiden daran – und sie leiden wirklich. Abgesehen von regelmäßigen kolikartigen Schmerzen und blutigen Durchfällen, müssen sie lebenslang Medikamente mit heftigen Nebenwirkungen einnehmen, werden oft operiert, erkranken häufig an Dickdarmkrebs (Krebsangst!) und verlieren wegen oftmaliger Krankenstände ihre Arbeit, wenn sie denn überhaupt eine finden. Die Lebensqualität ist erheblich eingeschränkt.

Neben dem individuellen Leid, ist ihre Versorgung zudem sehr teuer. Alleine die direkten Kosten liegen mindestens bei etwa 4.000 Euro pro Jahr (zusätzlich zu den „normalen Kosten“). Indirekte Kosten, etwa durch Arbeitslosigkeit, verdoppeln diesen Wert rasch.

 Um diesen Patienten nachhaltig helfen zu können, ist es nötig, sie lebenslang medizinisch gut zu begleiten; Blut und Nierenfunktion müssen regel- und routinemäßig kontrolliert werden, die Knochendichte muss beobachtet werden, die Patienten müssen sich regelmäßig Darmspiegelungen im Rahmen eines Krebs-Früherkennungsprogramms unterziehen, sie müssen psychologische begleitet werden, sie müssen immer und immer wieder motiviert werden, ihre Medikamenten auch wirklich zu nehmen, die verordnete Diät einzuhalten und die empfohlenen Arztbesuche wahrzunehmen. Und schließlich brauchen sie Hilfe zur Selbsthilfe.

Das muss alles Teil eines ernstzunehmenden Versorgungskonzeptes sein. Wenn Patienten so, eben integriert, versorgt werden, erhöht sich deren Lebensqualität und senkt für das System die Kosten.

 Bei uns funktioniert das eher schlecht, wie man an der Häufigkeit der Spitalsaufnahmen, die international als (ein) Qualitätsindikator für integrierte Versorgung dient, erkennt.

Zwar sind die Zahlen vorsichtig zu verwenden, aber in Österreich muss ein Patient im Schnitt alle 4,4 Jahre stationär versorgt werden. In Italien beispielsweise ist es nur alle 7 Jahre nötig – es ist Verbesserungspotential vorhanden.

 Gehen wir davon aus, dass die Politik es diesmal ernst meint, und mit dieser Reform nicht wieder nur einen Papiertiger beschlossen hat, dann stehen am Anfang Ziele, die bis 30. Juni 2013 auf Bundesebene, im sogenannten Bundes-Zielsteuerungsvertrag, beschlossen werden müssen.

Bundesziel: Senken der Spitalsaufenthalte bei CED bis 2016 auf im Schnitt alle 6 Jahre (entspricht einer Reduktion der Hospitlalisierungsrate von derzeit 23% auf 17% der Prävalenz).

Dieses Bundesziel muss nun dezentral konkretisiert werden – und das ist wichtig.

Betrachtet man nämlich die Bundesländer einzeln, wird klar, wo die Versorgung (gemessen an mehrtägigen Spitalsaufnahmen) besser, wo schlechter funktioniert.

 Im Burgenland müssen unsere Patienten alle 1,6 Jahre stationär behandelt werden (das entspricht einer Hospitlalisierungsrate von 61% der Prävalenz – oder anders ausgedrückt, fast zwei von drei Burgenländern, die an CED leiden, müssen einmal pro Jahr mehrtägig in einem österreichischen Spital versorgt werden).

Ganz anders im „besten“ Bundesland, Tirol, dort sind es nur alle 7,1 Jahre (Hospitlalisierungsrate 14%); Wien ist mit 6,5 Jahre (15%) ähnlich gut, Oberösterreich mit 3,5 Jahre (28%) dafür wieder schlechter.

Praktisch jedes Land muss eigenen Ziele und Maßnahmen setzen, und das könnte so aussehen:

Landesziel für die Versorgungsregion XY: Reduktion von Spitalsaufenthalten bei Patienten mit CED von X% der Prävalenz durch Implementierung ambulanter Versorgungskonzepte.

Diese Konzepte (hier z.B. aus UK) müssen entwickelt werden – von Selbsthilfegruppen über den Hausarzt bis zum spezialisierten Facharzt müssen Anlaufstellen (Best Point of Service) definiert werden, die aktuelle Versorgungswirksamkeit der ambulanten Einrichtungen ist zu durchleuchten, um Defizite feststellen und dann auch auszugleichen, die Leistungsspektren müssen abgestimmt werden, Fortbildungskonzepte für Ärzte und Patienten müssen entworfen werden, Betreuungskonzepte, z.B.: via e-Health, müssen entwickelt und auch implementiert werden. Und damit alle Einrichtung so zusammenspielen, dass der Patient integriert versorgt und wirklich zum „Best Point of Service“ geleitet wird, müssen die Leistungsanreize abgestimmt werden.

Und um das hier klar festzuhalten, solche Versorgungskonzepte werden nicht auf Ebene der VR möglich sein, sondern müssen bis auf Bezirksebene individuell entwickelt werden.

All das muss schließlich in den Landes-Zielsteuerungsvertrag mit dem Bund, abzuschließen am 30. September 2013 eingearbeitet und danach abgearbeitet werden.

So könnte die Reform konkret aussehen. Aber das ist sehr viel echte Arbeit, weit weg vom Glamour der „großen Politik“. Ob unsere Entscheidungsträger dafür bereit sind?

Warum Österreichs Ärzte streiken („Die Zeit“ 24.Jänner 2013)

Als der Ministerrat in der zweiten Jänner-Woche die heftig umkämpfte Gesundheitsreform absegnete, schlossen in Oberösterreich 1200 Ärzte ihre Ordinationen aus Protest. Weiterhin verteufelt die Standesvertretung der Mediziner den Maßnahmenkatalog als »Totspar-Reform«. Zwar hat nach der 1,5 Millionen Euro teuren Kampagne im vergangenen Dezember der Kampf gegen den vorerst zaghaften Umbau des Gesundheitssystems etwas an Kraft verloren, befriedet sind die Kritiker allerdings nicht.

Ziel der Reform ist es, künftig die Versorgung rund um Patienten und nicht mehr rund um Spitalsstandorte und Kassenordinationen zu organisieren. Patienten sollen dort behandelt werden, wo es richtig ist, und nicht mehr dort, wo gerade eine medizinische Einrichtung offen hat.

Es soll nach Jahrzehnten der politischen Diskussion das Prinzip »ambulant vor stationär« umgesetzt werden und es sollen Gruppenpraxen gegründet werden, die sich am Versorgungsbedarf und nicht an Finanzregeln orientieren. Es soll weiters ein System fixiert werden, bei dem das Geld der Leistung folgt und das dafür sorgt, dass Finanzmittel aus der stationären in die ambulante Versorgung fliessen.

All das und noch mehr sind jahrelange Forderungen der Ärztekammer, die dazu führen können, die Versorgung zu verbessern. Gleichzeitig sollen so die Kosten pro Patient gesenkt werden – ein Ziel, das zu erreichen bisher daran gescheitert ist, dass Länder und Kassen eher gegeneinander, als miteinander gearbeitet haben.

Warum wehrt sich also die Ärztekammer dagegen? Hat sie vielleicht recht, dass durch die Reform das System kaputtgespart wird?

Wenn bis 2020 elf Milliarden Euro eingespart werden, so erklärt der oberösterreichische Ärztekammerpräsident Dr. Peter Niedermoser, so »bedeutet das, dass man alle Krankenhäuser ein Jahr lang schließen müsste«.

Ein Blick in das Zahlenwerk zeigt allerdings, dass bis 2020 Mehrausgaben von 42 Milliarden Euro geplant sind – damit könnte man ein Jahr lang vier mal so viele Spitäler finanziere, wie heute. Die Reform ist, was Einsparungen betrifft, alles andere als ambitioniert. Hinter den fehlenden tatsächlichen Einsparungen steht vermutlich die politische Idee, gar keine größere Strukturreform durchzuführen – das stünde nämlich den Erwartungen der Ärztekammer diametral entgegen. Es ist kein augenscheinlicher Grund auszumachen, warum die Kammer dermaßen aggressiv Widerstand leistet. Warum also?

Das eigentliche Motiv für den hinhaltenden Protest liegt in einem anderen Effekt der Reform: Sie schränkt die Verhandlungsmacht der Ärztekammer, was die Vergabe von Kassenverträgen betrifft, erheblich ein. Bisher konnten ausschließlich Ärztekammer und Kassen gemeinsam beschließen, wo ein Kassenarzt ordinieren darf; zukünftig sollen nun Länder und Kassen gemeinsam den Versorgungsbedarf feststellen und die Infrastruktur dem Ergebnis entsprechend ausrichten. Die Ärztekammer kann also nicht mehr im gewohnten Ausmaß mitreden, wo eine Einzelordination oder eine Gruppenpraxis steht.

Das mag wenig dramatisch klingen, hat aber zwei Auswirkungen. Einerseits verlieren die Funktionäre der Ärztekammern viel an Macht, denn bisher galt ein einfache Gleichung: Ohne Kammer kein Kassenvertrag, ohne Kassenvertrag keine Kassen-Ordination und daher keine Versorgung auf Krankenschein. Auf dieser Formel baute die Macht der Ärztekammer in der Gesundheitspolitik aber auch gegenüber ihren Mitgliedern. Jetzt, da die Monopolverhandlungsmacht beendet werden könnte, zerbröselt diese Logik.

Sie mutet allerdings seit Jahren eigenartig an. Schließlich sollte die Kammer alle 41.000 Ärzte vertreten, und nicht nur jene etwa 8 000, die über einen Kassenvertrag verfügen. Betrachtet man die Situation der etwa 4 000 Hausärzte, entsteht der Eindruck, die Kammer vertrete eigentlich nur Fachärzte mit Kassenvertrag. Diesen geht es nämlich auch im internationalen Vergleich hervorragend.

Daraus ergibt sich die zweite Konsequenz der Reform: All jene Kassen-Fachärzte, die in Regionen mit hoher Facharztdichte arbeiten – also vor allem in Ballungsräumen und an Spitalsstandorten – können nicht mehr damit rechnen, dass ihre Ordinationen in der jetzigen Form über die eigene Pensionierung hinaus benötigt werden. Damit fällt aber die Möglichkeit weg, die eigene Ordinationen lukrativ an einen Nachfolger zu verkaufen, oder wie es eigentlich heißt, »ablösen« zu lassen. Diese Ordinationen könnten ohne den Vertragsautomatismus nahezu wertlos werden.

Wahrscheinlich haben solche Ordinationsinhaber ihre Funktionäre dazu gedrängt, diese Reform möglichst scheitern zu lassen – so sie nicht sogar selbst Funktionäre sind, da die für die Funktionärstätigkeit nötige Zeit vor allem Kassen-Fachärzte aufbringen können.

Alternativ zu diesem Macht- und Profitstreben einzelner wäre es allerdings auch möglich, dass maßgebliche Funktionäre tatsächlich glauben, das derzeitige System müsse so bleiben wie es ist, obwohl die Lebenserwartung des gesunden Teils der Bevölkerung im Vergleich mit Großbritannien etwa um fünf Jahre geringer, die Diabetiker-Sterblichkeit dreimal höher und die Zahl kaputter Zähne bei Zwölfjährigen doppelt so hoch ist – und das bei deutlich höheren Kosten.

 

Erschienen 24.Jänner 2013; Die Zeit