Mit Bauchgefühl gegen Fakten

   Auch im Gesundheitssystem gilt: Was zählt, ist das Narrativ.

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   Letzthin gab es in der „Presse“ ein beeindruckendes Interview mit dem Kassenobmann und turnusmäßigen ÖGK-Verwaltungsvorsitzenden Andreas Huss. Thema waren dessen Ausritte gegen das Wahlarztsystem, das er, verkürzt dargestellt, für unnötig und unsolidarisch hält, da Wahlärzte Personen seien, die sich auf Kosten der Steuerzahler ausbilden ließen, um dann in Hobby-Ordinationen wohlhabende Privatpatienten zu versorgen – und zwar zu einem „erheblichen Teil“ nicht mit evidenzbasierter Medizin, sondern esoterischen oder ästhetischen Leistungen.

   Das Beeindruckende an diesem Interview war weniger die darin geäußerte Meinung, sondern die Daten, die Huss’ Meinung „objektiv“ richtig machen sollten. Egal, ob diese belastbar sind oder sogar widerlegt werden können, diese Daten bleiben gültig, und der Interviewer, der sich redlich bemühte, sie konkreter zu hinterfragen, ja sogar zu widerlegen, wurde mit Stehsätzen abgespeist.

   Das Wissen ob der esoterischen und kosmetischen Ausrichtung der Wahlhausärzte hat der Obmann, weil er sich 50 bis 70 Honorare angeschaut hat. Das ist eine Stichprobe von allerhöchstens 0,001 Prozent, und auch nur, wenn eine zweite Aussage zutrifft, nämlich, dass die meisten Wahlarzt-Honorarnoten eingereicht würden – woher er das weiß, das weiß er selbst nicht. Aber weil es niemand weiß, kann er es behaupten. Sicher ist, dass Wahlärzte kaum versorgungsrelevant sind, weil ein „erheblicher Teil“ keine evidenzbasierte Medizin betreibt.

   Im Kassensystem dürfte das anders sein – obwohl eine simple Suche nach Kassenärzten mit Homepage zeigt, wie weit verbreitet etwa Esoterik bei Salzburger Kassenärzten ist (Salzburg deswegen, weil Huss viele Jahre Obmann der dortigen GKK war und „seine“ Kassenärzte kennen sollte). Aber natürlich nicht nur dort, wie ein Blick in das Leistungsspektrum der obersten Allgemeinmediziner, also der Spitze des Referats für Primärversorgung in der österreichischen Ärztekammer, zeigt. Da reiht sich eben ein orthomolekular tätiger Kassenhausarzt an eine Vampir-Lifting-Kassenhausärztinnen. Egal, das Narrativ muss halten: Wahlärzte sind versorgungsunwirksame Esoteriker, Kassenärzte hingegen versorgungswirksame Schulmediziner.

   Und das geht so nicht, weil ganze 55 Prozent des Kassenpersonals nur für die Wahlarztabrechnungen eingesetzt werden, die aber gewiss lediglich 6 Prozent aller Kassenleistungen erbringen. 3.500 Kassenangestellte also, die sich ausschließlich mit den Abrechnungen der Wahlärzte beschäftigen? Das würde ja bedeuten, dass die Aufarbeitung einer Wahlarztrechnung eine Stunde dauert, während die einer Kassenarztrechnung mit drei Minuten zu Buche schlägt. Beides ist unrealistisch. Bedenkt man, dass der Personalstand der Kassen in der Abrechnung seit vielen Jahren etwa gleich ist, die Einführung der elektronischen Abrechnung vor 20 Jahren kaum Auswirkung auf den Personalstand hatte und sich die Zahl der Wahlärzte seither verdoppelt hat, dann passt halt echt nichts zusammen.

   Aber darum ging es auch nicht – Ziel war es, eine tief ideologisch oder populistisch Meinung zu vertreten, dazu irgendwelche Zahlen zu nennen, die ein Journalist einfach hinnehmen muss, auch wenn es alternative Fakten sind. Was zählt, ist das Narrativ.

„Wiener Zeitung“ vom 28.07.2022