Aktuelle Entwicklungen im österreichischen Pflegesystem

Abschaffung des Pflege-Regresses ist kein Reformschritt zu einem vernünftigen Pflegesystem. Dieses müsste Pflegevermeidung, nicht Pflegeversorgung anstreben.

Litt bis vor einigen Jahrzehnten der typische Patient des Gesundheitssystems an einer akuten und heilbaren Krankheit, leidet er heute an chronischen Krankheiten und altersentsprechenden Einschränkungen der Gesundheit – Aus der Sicht des Patienten verschwimmen die Grenzen zwischen Pflege- und Gesundheitssystem.

Die Erkenntnis, dass die Progression der Pflegebedürftigkeit nicht nur die Lebensqualität reduziert, sondern auch mit einer verstärkten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems einhergeht, es jedoch Möglichkeiten gibt, die Progression der Pflegebedürftigkeit zu verlangsamen, führt dazu, dass  praktisch alle Regierung in Europa Anstrengungen unternehmen, die Pflege in das Gesundheitssystem zu integrieren. Der Weg dazu ist eine „moderne“ Definition der Pflege (aktivierende statt kompensatorische Pflege), die als Teil des Gesundheitssystems gedacht, also in das System integriert wird.

Österreich jedoch reagiert auf diese Entwicklung kaum, und hat mit der Abschaffung des Pflegeregresses sogar Schritte unternommen, die in die Gegenrichtung zeigen.

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Das Narrativ einer echten Gesundheitsreform

Warum wir eine Gesundheitsreform brauchen, die sich am Patientenwohl und nicht an Machtstrukturen orientiert.

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   Frau M. (78) lebt alleine. Die häufigen Besuche ihrer Tochter reichen aus, dass sie mit dem täglichen Leben keine Schwierigkeiten hat. Zudem kommen oft ihre Enkel samt Ur-Enkel vorbei. Das freut sie, und für diese hält sie sich auch fit. Eines Tages bekommt sie Fieber. Der Hausarzt diagnostiziert eine Lungenentzündung und schickt sie ins Spital. Dort wird sie auf Pneumokokken-Pneumonie sieben Tage lang behandelt. Im Krankenhaus lässt ihre intellektuelle Kraft Tag für Tag nach. Als sie wieder nach Hause kommt, ist sie verwirrt. Die Familie ist überfordert. Statt auf professionelle (und kostspielige) Hilfe zu setzen, versucht sie mit häufigeren Besuchen und der Übernahme von Tätigkeiten, die Frau M. früher selbst erledigt hat, zu helfen. Aber alles hilft nicht, Frau M. dämmert immer mehr ein. Sechs Monate später muss sie ins Heim, wo sie, schwer dement, nach drei Jahren stirbt.

   Was ist passiert? Der Spitalsaufenthalt hat Frau M. aus der Bahn geworfen. Er stellte ein Life-Event dar, das, weil nicht richtig behandelt (reaktivierende Pflege), zur „Dekompensation“ führte – die durch eigenen Willen und Training hintan gehaltene (kompensierte) Demenz tritt plötzlich auf.

Der initiale Spitalsaufenthalt hat etwa 4000 Euro gekostet. Das Pflegeheim, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde von der Sozialabteilung bezahlt und kostete bis zum Tod von Frau M. 40.000 Euro. War das nötig? Nein. Beginnen wir damit, dass der Hausarzt die Pneumonie zu Hause behandeln und den Spitalsaufenthalt, der ja Auslöser war, vermeiden hätte können. Kosten, vielleicht 1500 Euro, die aktuell nur unzureichend vom Kassensystem getragen werden. Das System verdrängt gerade ältere Patienten ins Spital.

   Dann das Heim. Auch das wäre nicht nötig gewesen. Würde bedarfsorientierte Pflege genauso als Sachleistung zur Verfügung stehen wie das Spital, hätte Frau M. für ein paar Wochen täglich eine reaktivierende Pflege und allenfalls eine Haushaltshilfe erhalten, die zusammen vielleicht 3000 Euro gekostet und den Verlauf hätten mildern oder gar verhindern können. Macht in Summe 4500 Euro, ein Zehntel der Summe, die aufgebracht wurde – und das bei einem deutlich besseren Ergebnis.

Natürlich ist das simpel gedacht. Die Welt wäre leicht zu retten, wenn alles so einfach wäre, aber vieles deutet darauf hin, dass es, bei sinkenden Kosten, gerade bei alten Menschen viel bringt, Spitalsaufenthalte zu vermeiden. Und selbst wenn wir annehmen, dass die Kosten nicht gesenkt werden können, eines hätten wir jedenfalls erreicht: eine höhere Lebensqualität, nicht nur für die Patientin, sondern auch für die Familie.

   Um das zu erreichen, müssten die Ressourcen (das ist mehr als Geld), die wir ins Gesundheits- und Pflegesystem stecken, in eine patientenorientierte Versorgung investiert werden. Doch genau das ist nicht möglich. Denn wir verteilen nur Gelder nach (Macht)Silos – ins Kassensystem, ins Spitalsystem, ins Pflegesystem. Und dann kümmert sich jedes System mit vollem, verfassungsmäßig fixiertem Recht um sich selbst. Nur eine Verfassungsänderung könnte diese Machtblöcke daran erinnern, wofür sie da sind.

„Wiener Zeitung“ Nr. 209 vom 27.10.2017 

Mehr Medizin-Universitäten braucht das Land

 Ärztemangel: Weg mit dem Aufnahmetest und her mit mehr, viel mehr Studienplätzen.

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   Der Ärztemangel, er hat uns fest im Griff. Kein Tag, an dem nicht über eine nicht nachbesetzbare Kassen-Arztstelle berichtet und auch gleich die Lösung gefunden wird: Wir brauchen mehr Medizin-Absolventen. Die Diskussion schwappt aus Deutschland, wo es wirklich Probleme gibt, nach Österreich. Doch bei uns? Sachlich betrachtet haben wir mit mehr als 505 ärztlich tätigen Medizinern pro 100.000 Einwohner die meisten in der EU – verglichen mit Deutschland (411) gleich um ein Viertel mehr. Da hilft es auch nicht, wenn von manchen politischen Akteuren merkwürdige Rechnungen angestellt werden, um die Zahl kleinerzurechnen; etwa dadurch, dass man Turnusärzte nicht mitzählt, weil die ja noch in der postpromotionellen Ausbildung stehen – was aber falsch ist, weil alle anderen diese mitzählen.

   Zudem haben wir keine übermäßige Pensionierungswelle zu erwarten. Der Anteil der Ärzte über 55 Jahren liegt bei etwa 27 Prozent, in Deutschland bei 42. Dort wird es bald wirklich rund gehen.

   Vor allem deshalb, weil in Deutschland mit 15 Absolventen pro 100.000 Einwohner nur knapp überdurchschnittlich (EU: 12) viele Mediziner ausgebildet werden. Wir bilden hingegen alleine an öffentlichen Universitäten 23 pro 100.000 Einwohner aus. Zählen wir die privaten Unis dazu, steigt die Zahl auf 27. Da hilft es auch nicht, wenn von manchen politischen Akteuren merkwürdige Rechnungen angestellt werden, um die Zahl kleinerzurechnen, indem etwa nur inländische Absolventen der öffentlichen Unis berücksichtigt werden. So rechnet international niemand – wieso auch?

   Also wieso sind sich trotzdem alle so sicher, dass wir einen Ärztemangel haben, der durch mehr Studienplätze (manche verlangen eine Verdoppelung) behebbar ist?

   Bei den Ärztekammern kann man das noch irgendwie nachvollziehen. Sie sind die Verwalter eines verpflichtenden Zusatzpensionsprogramms für Ärzte, des sogenannten Wohlfahrtsfonds. Sie können, einem Pyramidenspiel nicht ganz unähnlich, ihren Verpflichtungen aus der Vergangenheit nur nachkommen, wenn die Zahl der Ärzte kontinuierlich wächst – was ja dank der enormen Zahl an Absolventen seit vielen Jahren garantiert ist (im Durchschnitt 900 Ärzte pro Jahr).

   Doch warum schreien so viele Politiker? Da, so ist zu vermuten, liegt der Grund wo anders. Es gibt etwa 46.000 Maturanten. Fast jeder Vierte meldet sich beim Aufnahmetest für Medizin an. Doch nur 1100 erhalten einen Studienplatz. Viele Tausende, die nicht durchkommen, haben dann unzufriedene Eltern, von denen sich viele Tausende bei der Politik beschweren – begonnen bei Bürgermeistern, hinauf zu den Landeshauptleuten. Wie kann es sein, dass es Ärztemangel gibt (kann man jeden Tag in der Zeitung lesen, außerdem müsse man lange auf einen Arzttermin warten, wie es heißt, und Kassenstellen können auch nicht nachbesetzt werden), und das eigene Kind darf nicht studieren? Und der Test sagt gar nichts aus, weil das eigene Kind sicher ein sehr guter Arzt geworden wäre.    So etwas ist lästig. Und wie löst man das politisch am elegantesten? Man fordert laut mehr Studienplätze und Abschaffung des Aufnahmetests – wegen des Ärztemangels.

„Wiener Zeitung“ Nr. 194 vom 05.10.2017