Völlige Verwirrung – der stabilste Weggefährte

   Ein weiterer ständiger Begleiter dieser Pandemie ist die gegenseitige Schuldzuweisung, wer für Verwirrung gesorgt hat.

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   Das Verwirrspiel begann früh: Als Ende April die Maßnahmen verschärft wurden, weil bald jeder jemanden kennen würde, der an Covid-19 gestorben wäre, löste die erste Kluft zwischen Wissenschaft und Politik Irritation aus.

   Dann die Diskussion über Kinder als Superspreader: Seit der ersten Clusteranalyse und im Einklang mit wissenschaftlicher Literatur war klar: Kindergärten und Volksschulen spielen keine Rolle im Infektionsgeschehen. Doch erst jetzt traut sich ein Minister, das öffentlich zu sagen. Vermutlich hat sich der Irrglaube an infektiöse Kinder verfestigt. Denn er wurde monatelang politisch bestärkt, weil Meinungsumfragen ergaben, dass die Bevölkerung das glaubt und glauben will: Also Kindergärten und Volksschulen schließen. Warum sollte man über unpopuläre Fakten aufklären, wenn man populäre Alternativen bedienen kann?

   Dann die Wiedereinführung der Maskenpflicht in Supermärkten: Grund war eine Meinungsumfrage! Die Mehrheit hatte Angst, sich dort anzustecken. Das zeigte, wie wenig das Wissen über richtiges und falsches Verhalten verbreitet ist – wenn es da wäre, hätte keiner oder wenigstens nicht die Mehrheit der Wähler nach Masken gerufen. Supermärkte sind unbedeutend im Ansteckungsgeschehen, weil wir dort kein Risikoverhalten an den Tag legen.

   Und jetzt die Ampel: Eigentlich sollte sie die regionale Bevölkerung über regionale Gefahrenlagen informieren, um zu lernen, was richtig ist, was läuft, und so Risikoverhalten verändern – dezentral. Aber warum sollte das funktionieren? Niemals wurde Risikoverhalten erklärt, immer nur wurden zentral Verhaltensregeln vorgeschrieben!

   Meinungsumfragen-gestützte Symbolpolitik und Verhaltensvorschriften sind leichter umzusetzen, als mühsam evidenzbasiertes Wissen über Infektionsgeschehen und zu vermeidendes Risikoverhalten zu verbreiten. Und so wird es weitergehen. Populistisch. Wenn jetzt aus dem Nichts die Grippeimpfung empfohlen wird, dann wohl deshalb, weil irgendeine Meinungsumfrage zeigt, dass die Mehrheit sich (jetzt) impfen lassen will. Dass dies weniger dem Individual- als dem Herdenschutz dient, wird die Mehrheit nicht wissen (man nennt das Präventionsparadox). Um das Wissen aufzubauen, hätte man seit Monaten klar (nicht einfach!) kommunizieren müssen – bekannt ist das Problem ja seit Mai! Ob jetzt noch Aufklärung funktioniert? Wenn nicht, wie wird die Politik auf fragwürdige Schwarzmarkt-Impfstoffe reagieren, die sich die Menschen in der Angst ums eigene Wohl selbst besorgen?

   Und weil die Verwirrung groß ist, gib es das andere Spiel: die gegenseitige Schuldzuweisung. Die (vor allem junge) Bevölkerung, die sich nicht an Verhaltensregeln halten will, reißt sich nicht zusammen; oder Eltern, die sich nicht ordentlich informieren, sind an der Verwirrung schuld; oder eben eine andere als die eigene Behörde; das Land; der Bund; die EU. Jeder – vom Bürgermeister über politische Bildungsdirektoren, Landes- und Stadträte bis hin zu Ministern – kennt jemanden, der schuld ist.

„Wiener Zeitung“ vom 24.09.2020