„Konzernisierung“ des österreichischen Gesundheitssystems

    Es wird wieder einmal vor der Übernahme des Gesundheitssystems durch Kapitalisten und Konzerne gewarnt.

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   Das österreichische Gesundheitssystem, bekanntermaßen das beste der Welt, ausschließlich auf das Wohl der Patienten ausgelegt und völlig frei von Eigeninteressen der Kammern, Parteien und Gewerkschaften, steht an der Schwelle zur „Konzernisierung“. Demnächst, so wird mancherorts klar, wird es eine Dominanz der Großkonzerne geben. In der Folge werden die Bedürfnisse der Patienten unwichtig, und es geht nur mehr um die Interessen der Investoren. Diese Entwicklung ist deutlich abzulesen.

   Denken wir an die Schweiz. Dort betreibt laut dem österreichischen Ärztekammerpräsidenten Thomas Szekeres der Schweizer Mischkonzern Migros, eine Genossenschaft, an mehr als 40 Standorten ambulante Gesundheitszentren – genau genommen sind es ja schon mehr als 50. Und damit arbeiten schon fast fünf Prozent der ambulant tätigen Ärzte der Schweiz für diesen Schweizer Konzern – eine klare Dominanz der Konzerne gegenüber den frei praktizierenden Ärzten. Das droht auch in Österreich.

   Und dann dieser Süßwaren- und Tierfutterproduzent Mars, der ist Weltmarktführer bei Tierkliniken und betreibt, seit er das Unternehmen AniCura gekauft hat, auch an fünf Standorten in Österreich Tierkliniken. AniCura wird nicht aufhören mit Tierkliniken, schließlich stellt Mars ja auch Süßwaren her – und ist ein Großkonzern und damit gierig.

   Ach ja, die Gier; 2017 investierten Finanzinvestoren in Europa elf Milliarden Euro in den Gesundheitssektor. Die Mehrzahl dieser Private-Equity-Gesellschaften haben ihren Firmensitz in diversen Steueroasen und ziehen die Gewinne steuerschonend ab. Und weil der Gesundheitssektor in Europa nur 2000 Milliarden Dollar schwer ist, ist demnächst mit der totalen Übernahme durch diese Investoren, denen es nicht um das Wohl der Patienten, sondern um ihre Rendite geht, zu rechen.

   Apropos Investoren: Die europäische Investitionsbank will 300 Millionen Euro in die Errichtung unserer Primärversorgungs-Infrastruktur investieren –ein schlagender Beweis dafür, dass internationale Finanzinvestoren vor der Tür stehen, um unser Gesundheitssystem zu zerstören.

   Und wer noch nicht überzeugt ist, dass profitgierige Kapitalisten unsere aktuell tätigen freiberuflichen Ärzte, die keinen Gewinn anstreben, sondern nur den gerechten Lohn erbitten, verdrängen: In Wien wollte doch tatsächlich eine Tochterfirma des privaten Baukonzerns Porr ein Primärversorgungszentrum errichten. Nun, besitzen und betreiben dürfte sie das ja nicht, weil das Gesetz klar vorschreibt, dass das nur die Ärzte dürfen, die dort arbeiten. Aber das macht nichts, denn schon das Errichten ist ein Einfallstor der Privatisierungen.   

Aber das konnte gerade noch verhindert werden – noch. Besser wäre natürlich, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, damit öffentliche Gebäude im Gesundheitssektor, etwa Spitäler, Kassenzentralen aber auch Ordinationen, nur mehr durch staatliche oder wenigstens kammereigene Baufirmen gebaut oder renoviert werden dürfen. Denn alles andere kommt einer Privatisierung und „Konzernisierung“ gleich

„Wiener Zeitung“ vom 12.04.2019

Diabetiker sein in Niederösterreich

Die einseitige Kündigung, des Diabetes-Versorgungsprogramms „Therapie aktiv“ durch die Niederösterreichische Ärztekammer hat zu einem Aufschrei geführt

Als Argument brachte die Kammer unter anderem aber vor allen Dingen vor, dass die Versorgung nicht verbessert wurde, aber die Bürokratie gestiegen ist. Zudem seien so wenige Patienten (5.489 von etwa 75.000 Diabetikern) in diesem Programm eingeschrieben, dass man nur schwerlich von einem effektivem Versorgungskonzept sprechen kann.

Nun, auch ich war ob dieser Kündigung entsetzt. Egal wie schlecht das Programm aufgesetzt war (es war ein absoluter Schnellschuss, damit wir für die EU-Präsidentschaft 2006 international was vorweisen können – wäre ja peinlich gewesen, wenn Ministerin Rauch-Kallat zwar Diabetes zum gesundheitspolitischen Schwerpunkt  gemacht, aber nachweislich selbst nichts vorzuweisen hätte) und wie erfolglos es läuft (nicht einmal zehn Prozent aller Diabetiker nehmen aktuell daran teil), es war eben der erste Versuch, unser System patientenorientierter zu gestalten – so was beendet man nicht einfach so!

Doch vielleicht hat ja die Kammer gar nicht unrecht?

Beginnen wir mit der Diabetiker-Dunkelziffer, die ja immer wieder zitiert wird, um die Ausmaße des Problems zu illustrieren. Höchstoffiziell genannt werden 30 bis 50 Prozent. Anders ausgedrückt: zu den, wegen ihres Medikamentenverbrauchs, bekannten 300.000 Diabetiker, kommen 100.000 bis 150.000, die gar nicht wissen, dass sie krank sind.

Da unsere Politik wenig an Fakten interessiert ist, gibt es keine Studien, die das belegen – die Dunkelziffer ist eine „Bauchzahl“ und soll sie vermutlich auch bleiben. Andererseits, ging eine sehr kleine (und natürlich unveröffentlichte) Studie in NÖ vor zehn Jahren dieser Dunkelziffer nach – und siehe da, hier sind so gut wie alle Diabetiker bekannt. Es gibt in NÖ praktisch keine Dunkelziffer – ein eigenartiges Phänomen.

So wie wir schon nicht wissen, wie viele Diabetiker es gibt, wissen wir noch weniger wie sie versorgt sind. Also, wie viele erblinden, wie vielen werden Füße amputiert, wie viele müssen an die Dialyse, weil ihre Nieren versagen – lauter blinde Flecken.

Aber, wir können nachschauen, wie oft sie ins Spital müssen, wohl hauptsächlich deswegen, weil ihr Blutzucker verrückt spielt, der das tut, weil der Patient schlecht begleitet und sein Zucker schlecht eingestellt ist. Die Spitalshäufigkeit ist kein guter aber für unsere Zwecke brauchbarer und mangels valider Daten auch einziger Parameter, um zu schauen, wie Diabetiker außerhalb des Spitals versorgt sind.

Und siehe da, die niederösterreichischen Diabetiker liegen mit riesigem Abstand am seltensten im Spital. Während in anderen Bundesländern fünf bis sechs Prozent der dortigen Diabetiker einmal pro Jahr im Spital liegen, sind es in NÖ nur drei – Und das passt grosso modo zum Wissen, dass die Spitalshäufigkeit dann, wenn Diabetiker früh erkannt und gut betreut werden, sinkt! Das bedeutet im Umkehrschluss: die Niederösterreichischen Diabetiker sind besser versorgt als die Diabetiker in allen anderen Bundesländern (was nicht heißt, dass es im internationalen Vergleich eine gute Versorgung ist!!)

Mortalität Diabetes

Ist es also so, dass überall in Österreich „Therapie aktiv“ wichtig ist, um die Diabetiker-Versorgung zu verbessern, nur in Niederösterreich nicht? Ja, es sieht ganz danach aus – warum das so ist, weiß kein Mensch. Wahrscheinlich ist es das Honorarsystem der niederösterreichischen Hausärzte, vielleicht aber auch nicht.

Was wir aber für die anstehende Reform lernen können ist, wie wichtig es ist, regionale Versorgungskonzepte zu entwerfen um regionale Probleme zu lösen. Zentrale, rigide Vorgaben können, egal wie gut durchdacht, mehr irritieren, als nützen.

Die Gesundheitsreform 2012 – eine Analyse

Auch wenn die Variante vom 27.9.2012 gegenüber der Endvariante – dazwischen liegen Monate politische Verhandlungen, an deren Ende Texte statt klarer und gesetzesfähiger immer unschärfer und unverbindlicher klingen – im Sinne der Versorgungsforschung deutlich besser war, das was rausgekommen ist, kann ernsthaft Grundlage einer echten Reform darstellen.

Die allgemeine Stoßrichtung

Wesentliche Aussage ist, dass unsere Versorgung zielorientiert gestaltet werden soll, wobei Ziele patientenorientiert aufzustellen sind und die Institutionen- Orientierung (also im Wesentlichen Spitalsstandorte und Kassenordinationen) einer integrierten Versorgung weichen soll. Patienten sollen dort behandelt werden, wo es richtig ist, und nicht dort wo gerade eine Gesundheitseinrichtung steht oder/und offen hat („Best Point of Service“).

Messgrößen und Zielwerte sind zu entwickeln und zu implementieren, die die Patientenorientierung sowohl in Ergebnissen, Strukturen und Prozessen messen sollen – es soll also transparent werden, ob der Patient zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle die richtige Leistung erhält.

Rahmenziele werden zwar zentral aufgestellt, aber sie sind dezentral unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten zu konkretisieren. Es sind definitiv keine „zentralistischen“ Diktate. Dezentral bedeutet übrigens auf Ebene der Versorgungsregionen (VR) des Österreichischen Strukturplans Gesundheit (ÖSG), und davon gibt es 32. Es ist also jedes Bundesland weiter unterteilt – das sollte dezentral genug sein.

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Arbeit macht krank! (oder machen Politiker krank?)

Politiker sind Junkies geworden! Sie dürfen Probleme nicht mehr lösen, weil sie von ihnen leben. Der Machtwille hat den Gestaltungswillen besiegt!

Werte P.T. Leser! Erlauben Sie mir ein bisschen abzuschweifen.

Vor wenigen Wochen, wurde in der politischen Elite heftig gestritten (Video), ob Frauen wirklich 25 Prozent weniger verdienen. Schließlich gibt es Evidenz, dass der Unterschied deutlich kleiner ist, wenn man wirklich Äpfel mit Äpfeln vergleicht, also in den Einkommensstatiken jene Faktoren herausrechnet, die nichts mit den Geschlecht zu tun haben.

Statt sich darüber zu freuen, beharrt aber das Frauenministeriumsamt politisch korrektem Gefolge darauf, dass Frauendiskriminierung nicht weniger sondern mehr wird.

Nun, erklärlich ist das alles nicht, denn wir tun ja viel, um Frauendiskriminierung zu beenden – aber sie will, folgt man der Ideologie des Frauenministeriums, nicht kleiner werden. Das schien mir unlogisch und so kam ich auf den Gedanken, vielleicht wollen Politiker gar nicht, dass Probleme gelöst werden!

Unter diesem Blickwinkel habe ich das Problem betrachtet, dass unsere Senioren nicht mit allzu vielen gesunden Lebensjahren  rechnen dürfen, wenigstens nicht mit so vielen, wie eben in jenen Ländern, die gleich viel für Pensionen und Gesundheit ausgeben wie wir.

 Die gesunden Lebensjahre in ÖSterreich liegen weit hinter denen, anderer Länder

Ausgaben für die Gesundheitsversorgung in Europa seit 1970

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Behandlung, Versorgung und Gesundheitssystem – ein Text zum Verständnis

(Lesezeit 10 Min.) In der gesundheitspolitischen Diskussion, genauer in der realen Situation besteht ein erhebliches Sprachgewirr. So wird beispielsweise gerne behauptet, wir hätten das beste Gesundheitssystem (GS) der Welt und argumentiert das dann mit den Erfolgen der onkologischen Medizin oder den angeblich geringen Wartezeiten auf einzelne Therapien etc.. Abgesehen, dass die meisten dieser Aussage arbiträrer Natur, oder maximal als Einzelerfahrung zu werten sind, werden hier Behandlung, Versorgung und Gesundheitssystem in der Regel willkürlich vermischt.

Grundsätzlich gilt aber, dass die Behandlung eines Patienten nicht automatisch etwas mit seiner Versorgung zu tun haben muss, und noch viel weniger mit dem Gesundheitssystem. Daher können Behandlungserfolge auch nicht unmittelbar der Versorgung und schon gar nicht dem Gesundheitssystem zugesprochen werden. Gesundheitssystem, Versorgung und Behandlung sind verschiedene Ebenen, die, wiewohl systemisch miteinander verknüpft, eigenen Regelmäßigkeiten unterliegen.

Interessant, politisch betrachtet aber logisch, sind die Grenzen dieser Ebenen dann klarer, wenn es um negative Nachrichten geht. Wenn im Rahmen eine Behandlung etwas schief läuft, also ein Misserfolg vorliegt, halten sich meist bereits die Verantwortlichen auf der Versorgungsebene, ganz klar aber jene der Systemebene als unbeteiligte schuldlos. Üblicherweise ist ein Spitalsarzt selbst schuld (auch wenn es juristisch anders aussieht) und nicht das Spital und schon gar nicht das Bundesland. Analog im niedergelassenen Bereich. Dort wird es nie zur Schuldhaftigkeit der Kassen oder in weiterer Folge des Gesundheitsministeriums als Aufsichtsbehörde kommen, wenn eine Behandlung erfolglos blieb.

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Entscheidungsschwäche – entscheidende Schwäche

Ein solidarisches Gesundheitssystem ist nur solange vernünftig, solange es transparent arbeitet und entscheidungsfähig ist. Beides ist verloren gegangen.

Astrid L. lebt in Lödöse, Schweden. Sie ist 49 und wird ihren 50sten mit ihren erwachsenen Kindern feiern. Dass sie seit ihrem 12. Lebensjahr an jugendlichem Diabetes leidet, hat sich auf ihr Leben kaum ausgewirkt.

Wie froh Astrid L. sein kann, dass sie nicht in den USA wohnt, ist ihr nicht bewusst. Die Wahrscheinlichkeit dort an seinem 50sten bereits unter der Erde zu liegen, ist für die weiße (reichere) Bevölkerung drei, für die schwarze (ärmere) gleich zehn mal höher.

Warum das so ist, das ist nicht so ganz klar. Dass es nicht am Geld liegt zeigen die Gesundheitsausgaben. Zwar darf man die irrwitzigen Summen in den USA nicht einfach mit den niedrigeren in Skandinavien vergleichen; vom Haftungsrecht bis hin zu den unterschiedlichen Kapitalkosten in umlage- bzw. kapitalgedeckten Systemen, gibt es vieles, das einen direkten Vergleich nicht erlaubt, aber dass in den USA mehr ausgegeben wird, ist sicher. Es muss schon was anderes, als das Geld sein.

Jugendlicher Diabetes ist ein hervorragender Parameter für Gesundheitssysteme. Die Behandlung ist ausgesprochen komplex und dauert ein Leben lang. Die lebensverkürzenden Begleiterkrankungen entwickeln sich langsam und kaum bemerkbar. Wenn sie manifest werden, sind sie quasi unbehandelbar. Die Patienten erblinden, haben kaputte Nieren, kriegen Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Die einzig Therapie ist Insulin spritzen und sein Leben diszipliniert führen. Und um die Patienten dabei bei der Stange zu halten, dafür muss ein System richtig gut funktionieren.

So wie es aussieht, sind jene Systeme, die auf die Entscheidung des einzelnen und den freien Markt setzen dabei weniger erfolgreich als jene, deren Funktionsweise solidarisch ist. Mehr noch, dort, wo ein restriktives, aber transparent agierendes nationales Gesundheitssystem besteht, sind vor allem Patienten mit chronischen Erkrankungen besser aufgehoben als anderswo.

Der Grund, warum das so ist, dürfte wohl darin zu suchen sein, dass der einzelne nur schwer langfristige Entscheidungen für seine Gesundheit richtig treffen kann. Solange man gesund ist, neigt man dazu, sich nicht vorzustellen, krank zu sein. Wenn man krank ist, ist man erst recht nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Werden dem einzelnen diese Entscheidungen durch ein öffentliches Gesundheitssystem abgenommen, dann besteht – und das offenbar erfolgreich – die echte Chance, länger gesund zu bleiben.

Natürlich funktioniert das nur, wenn die Menschen den Entscheidungsträgern im System auch vertrauen. Und das kann man erreichen, indem man Entscheidungswege offenlegt und die Bevölkerung teilhaben lässt.

Wenn jedoch das System keine Entscheidungen mehr trifft, dann werden diese, mangels Alternativen, wieder an den einzelnen zurückfallen – mit all den Konsequenzen, die wir in den USA sehen.

Und wie sieht es mit der Transparenz und Entscheidungsfähigkeit hierzulande aus? Transparenz ist grundsätzlich ein Fremdwort. Unsere Entscheidungsträger halten hinter verschlossenen Türen Hof.

Aber finden sie dann wenigstens zu Entscheidungen? Seit 40 Jahren diskutieren sie erfolglos über eine Spitalsreform, ja selbst die aktuelle Frage der Kassensanierung wird nun bereits seit drei Jahren nur beredet. Weder ein klares Nein, noch ein klares Ja ist zu hören.

Da frage ich mich, wie geht es unseren jugendlichen Diabetikern? Glücklicherweise haben wir dazu keine offiziellen Statistiken.

Dieser Artikel wurde im November 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Umgehungsmaßnahmen und „Betrügereien“

Wären Ärzte nicht bereit, das System zu umgehen, um ihre Patienten versorgen zu können, würde die Versorgung längst nicht mehr funktionieren.

Frau M. ist 75, Witwe, ihre Kinder sind von Wien weggezogen, ihre Freunde größtenteils unter der Erde. Frau M geht es so eigentlich gut, aber natürlich ist sie mit 75 nicht mehr ganz gesund. Sie geht, teils weil nötig, größtenteils jedoch weil sie Ansprache erhält, ein bis zwei Mal pro Woche zu ihrem Hausarzt Dr. H. Der ist noch beseelt von seinem Beruf und gehört zu denen, die ihre „seelsorgerische“ Funktion wahrnehmen. Er empfängt Frau M. wirklich fast jedes Mal, um sie zu untersuchen. Klar weiß er, dass er nichts finden wird, aber die „therapeutische Untersuchung“ ist halt was, was zu seinem Beruf gehört.

Eine solche „therapeutische Untersuchung“ nimmt, mit Dokumentation in etwa 10 Minuten seiner Zeit in Anspruch. Da er Frau M. pro Quartal etwa 14 Mal sieht, bedeutet das etwa 140 Minuten seiner Arbeitszeit. Von der Kassa erhält er pro Quartal eine Pauschale inkl. Hausarztzuschlag von 29,50 EURO. Sagen wir, dass ein Drittel davon in die Aufrechterhaltung der Infrastruktur (Miete, Personal, Heizung etc) fließen, dann bleibt für seine Zeit ein Stundenlohn von 8,60 EURO. Würde man das jetzt auf 14 Gehälter und unter Anrechnung der Urlaubszeit umrechnen, sind das heiße 6,20 pro Stunde – brutto!

Davon eine Familie ernähren geht nicht. Also was tut Dr. H.? Einerseits könnte er, wie viele seiner Kollegen, Frau M. sofort weiterüberweisen – am besten in die Spitalsambulanz; was rechtens wäre, aber nicht patientenorientiert (und für uns sehr teuer). Andererseits könnte er bei jedem oder jedem zweiten Besuch ein EKG schreiben. Pro EKG kriegt er 10 EURO und das bessert seinen Stundenlohn auf. Rechtens ist das nicht, weil er nur Leistungen erbringen darf, die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; und sooft ein EKG zu schreiben, ist definitiv nicht nötig. Trotzdem hat Dr. H. sich dafür entschieden. Jetzt hat Frau M. eines der bestdokumentierten gesunden Herzen, und Dr. H. fühlt sich wohl, geholfen zu haben, ohne dass seine Familie verhungern muss – dass er damit das System „betrügt“, ist ihm, seiner Patientin und wohl auch den meisten Entscheidungsträgern in der Kasse egal. Es weiß da wie dort ohnehin jeder, dass die Versorgung zusammenbrechen muss, wenn alle Hausärzte Dienst nach Vorschrift machten.

Aber auch im Spital wird das System untergraben. Hierzulande liegen wir 40 Prozent häufiger mit Pneumonie und gleich 300 Prozent öfter mit chronischem Herzversagen im Krankenhaus als die Deutschen. Klar könnten wir glauben, dass wir viel kränker sind und deswegen häufiger ins Spital müssen – rechtlich darf dort nämlich nur liegen, wer aus medizinischen Gründen einer stationären Versorgung bedarf. Real ist das natürlich anders. Wenn heute ein Patient ins Spital kommt, und der Arzt sich nicht sicher ist, ob die ambulante Versorgung, sei sie pflegerisch oder medizinisch, garantiert ist, dann nimmt er den Patienten halt mit irgendeiner Diagnose auf – Gesetz hin, Gesetz her.

Unser System ist schlecht. Keine Rede davon, dass es die realen Bedürfnisse der Versorgung unterstützt, im Gegenteil wird es täglich hinderlicher. Gott sei dank, lebt die Versorgung von Menschen mit Rückgrad, denen Systemvorschriften wurscht sind, wenn sie Patienten helfen müssen. Schade allerdings, dass sie dabei immer „krimineller“ werden. Und das nur, weil die Systemverantwortlichen an Machterhalt interessiert sind, und die eigentliche Versorgung längst aus dem Blick verloren haben.

Dieser Artikel wurde im September 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Fehlsteuerung und Fehlbelegung

Obwohl wir viele Krankenhäuser haben, werden echte Notfälle immer schwieriger versorgt werden können – dank der Fehlsteuerung und der Reformverweigerung.

Es ist unter der Woche, vormittags, als ein sichtlich kranker Mitt-Fünfziger mit blassem Gesicht und stechenden Schmerzen vom Hals bis zum Kreuz die Ambulanz eines großen Wiener Spitals betritt. Rasch erkennen die Ärzte die Situation: Der Mann hat ein Aortenaneurysma. So eine Diagnose ist ein Alptraum, denn in der Innenschicht der Hauptschlagader hat sich ein Riss gebildet, durch den sich nun das Blut in die Wand der Ader wühlt und sie so spaltet. Der hohe Druck führt dazu, dass die so verdünnte Wand sich immer stärker dehnt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie platzt. Passiert das, dann verblutet der Patient innerhalb kürzester Zeit. Die einzige Chance ist eine Not-Operation, die so groß und schwer ist, dass man, wenn man überlebt, postoperativ auf eine Intensivabteilung muss.

Wiewohl ein großes Spital, ist es für so eine Operation nicht ausgerüstet, also beginnen die Ärzte zu telefonieren. Doch in ganz Wien will den Patienten niemand haben. Die OPs seien alle belegt oder es sei kein Intensivbett frei! Man beginnt außerhalb zu suchen – und wird fündig in St. Pölten. Jetzt noch rasch einen Hubschrauber bestellt und alles wird gut! Falsch! Denn bei der Flugrettung erfährt man, dass alle Hubschrauber besetzt sind, frühestens in 70 Minuten wird einer frei! Soviel Zeit ist nicht, also legt man den Mann in eine Rettung und fährt mit Blaulicht nach Niederösterreich.

Was aus dem Mann geworden ist, weiß ich nicht. Aber verwundert hat mich das alles schon. Wie wahrscheinlich ist es, dass in ganz Wien kein OP oder Intensivbett für solche Notfälle frei ist? Rechnerisch gering. Wir sind gut ausgestattet mit OPs und verglichen mit anderen Ländern haben wir viele Intensivbetten. Gut, es war Vormittag, und nachdem unsere OPs nur vormittags benützt werden, ist klar, dass dann alle im Vollbetrieb sind – hauptsächlich mit geplanten Routineeingriffen. Aber warum war kein Hubschrauber frei?

Was ist passiert? Es kommen eigentlich nur zwei Erklärungen in Frage. Die erste ist zynisch. Sie würde bedeuten, dass so schwere Patienten, wenn möglich, abgelehnt werden. Das will ich ausschließen. Die zweite Erklärung ist aber nicht viel besser.

Durch das Finanzierungssystem geraten die Häuser immer mehr unter Druck. Statt Kapazitäten für Notfälle frei zu halten, müssen sie danach trachten, möglichst voll zu sein. Leere Betten, vor allem auf Intensivabteilungen, kosten nur und bringen nichts. Also „stopft“ man rein, was geht – ob nötig oder nicht.

Und wie ist das mit der Rettung? Ähnlich! Auch hier wird es für die Betreiber immer schwieriger, Hubschrauber herumstehen zu lassen. Da fliegt man dann schon lieber jede Bagatelle. Wenn dann wirklich ein Notfall auftaucht, braucht es niemanden wundern, wenn kein Hubschrauber frei ist.

Und so erklärt sich alles. Obwohl eigentlich genug Kapazitäten da wären, sind diese für Notfälle immer schwieriger zu erhalten. Skurrilerweise würde eine Erhöhung gar nichts bringen. Mehr Intensivbetten oder Hubschrauber würden nur dazu führen, dass die „Fehlbelegung“ zunimmt, weil die Preise sinken und so die Betreiber zwingen, die Auslastung weiter zu erhöhen; das geht aber nur mit planbaren Patienten, nicht mit Notfällen.

Helfen würde eine Änderung der Finanzierung und das wiederum geht nur, wenn die Kompetenzen endlich klarer strukturiert werden – weil das aber nicht passiert, sind die ersten „Opfer“ der Reformverweigerung echte Notfälle.

Dieser Artikel wurde im Juli 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Etwas ganz anderes

Weil sich sowieso niemand mehr wirklich auskennt, einmal etwas, ganz abseits der österreichischen Akut-Reform-Diskussions-Wahnsinnigkeiten.

Vor langer langer Zeit (1978), weit weit weg, im tiefsten Kasachstan, in einem Ort, der heute Almati heißt, hat die Welt beschlossen, Gesundheitssysteme neu und besser zu organisieren. Festgehalten wurde das in einer WHO-Deklaration, die Österreich natürlich auch unterschrieben hat.

Da stehen so schöne Dinge drinnen wie: „Das Volk hat das Recht und die Pflicht, gemeinsam wie individuell, in der Planung und der Umsetzung der Gesundheitsversorgung eingebunden zu sein“, aber auch so praktische wie: „Primary Health Care (Anm.: ein Ausdruck, den man hierzulande kaum kennt und sperrig als Primärversorgungsbereich übersetzt) behandelt die wesentlichen Gesundheitsprobleme der Bevölkerung, indem es entsprechende Leistungen der Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention, Heilung und Rehabilitation zu den Menschen bringt.“

Weil es sich gerade trifft, und die Leiterin des Departments of General Practice an der School of Population Health in Auckland, Ngaire Kerse auf Besuch in Graz, ist, will ich das Thema aufgreifen.

Allgemeinmediziner, also Hausärzte, sind das Rückgrad der Primärversorgung. Sie sollten, so die Idealvorstellung seit dreißig Jahren, die Angelpunkte sein, um die sich Teams aus Pflegekräften, Hebammen, Sozialarbeiter etc. bilden, die die Gesundheitsversorgung zum Patienten bringen. Um so ein Hausarzt sein zu können, muss man gut für diese Aufgaben ausgebildet werden. So was geht nur, wenn man den Hausarzt als eigenständiges Fach sieht.

Aber hierzulande kann man nach drei Jahren Spritzendienst im Krankenhaus Hausarzt werden, ohne jemals eine Ordination von innen gesehen zu haben. Es gibt in ganz Österreich gerade einmal drei Professoren für Allgemeinmedizin. Seit 1950 sind ganze 25 wissenschaftliche Arbeiten von österreichischen Allgemeinmedizinern (davon 20 im Inland) erschienen und selbst das Gesundheitsministerium ist gegen eine rasche Etablierung des Hausarztes als Facharzt.

Zum Vergleich: Neuseeland hat für 4 Millionen Einwohner gleich sechs Universitätsinstitute für Allgemeinmedizin. Am Institut von Frau Prof. Kerse arbeiten sechs Professoren Vollzeit. Allein dieses Department publiziert jährlich mehr als 60 Artikel in internationalen Journalen. Die Ausbildung von Allgemeinmedizinern in Neuseeland beinhaltet zwölf verpflichtende Wochen während des Studiums, einen zweijährigen Spitalsturnus und danach 12 verpflichtende Monate in speziellen allgemeinmedizinischen Lehrpraxen. Für den endgültigen Abschluss sind dann noch zwei supervidierte Jahre in eigenständiger Praxis notwendig.

Im neuseeländischen Primärversorgungsbereich kooperieren mit den gut ausgebildeten Hausärzten ebenso gut ausgebildete Krankenschwestern (practice nurses, community nurses, familiy health nurses, district nurses, diabetes nurses, etc.).

In der WHO-Deklaration steht auch drinnen: „Alle Regierungen sollen nationale Strategien und Umsetzungspläne entwickeln, um Primary Helath Care als Teil einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu etablieren und zu stärken.“

Und um was dreht sich die Diskussion seit vielen Jahren bei uns? Um Kassenverträge und Spitalsreformen. Und immer öfter werden diese Diskussionen nicht einmal mehr öffentlich geführt. Warum auch, nur weil die WHO gemeint hat, dass das Volk das Recht und die Pflicht hat, in der Planung und Umsetzung der Gesundheitsversorgung eingebunden zu sein?

Dieser Artikel wurde im Juli 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Eine merkwürdige Diskussion

In den meisten gesundheitspolitischen Themen sind wir, wenn überhaupt, auf dem Niveau der 1970er Jahre. Das wird zunehmend skurriler.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, wird aktuell in Österreich darüber diskutiert, ob das Beveridge- oder das Bismarckmodell besser ist.

Beim Bismarckmodell geht es darum, dass Krankenkassen für die Krankenversorgung zuständig sind. Diese Kassen liegen in den Händen von sozialpartnerschaftlichen Sozialversicherungen, die sich ausschließlich aus Beiträgen finanzieren. Im Beveridgemodell sind es demokratisch legitimierte Politiker, die um die Krankenversorgung sorgen müssen und dafür Steuern verwenden.

Wer sich da nicht auskennt, soll sich nicht ärgern, da die Diskussion selbst unter Akademikern obsolet ist; und zwar deswegen, weil es international keine reinen Formen mehr gibt. Alle haben sich beim anderen was abgeschaut und es gibt nur mehr Hybride. Ernsthafte Diskussionen beschäftigen sich heute daher auch nur mit der Frage, welche Mischung wohl die vernünftigste wäre. Aber in Österreich lassen das die mächtigen Sozialpartner nicht zu, und sprechen – wissend oder, was schlimmer wäre, unwissend – weiter von der reinen Lehre!

Von einem reinen Bismarckmodell zu sprechen ist aber schon deswegen obsolet, weil die Krankenversorgung hierzulande sich ausschließlich mit der kurativen Behandlung beschäftigt und andere Bereiche längst „ausgegliedert“ wurden. So haben sich die Kassen 1976 aus der Pflege zurückgezogen, aus der stationären Versorgung 1985, aus den Spitalsambulanzen 1995, die Rehabilitation gehört der Pensionsversicherung, die Prävention Bund und Ländern.

Noch merkwürdiger wird die Argumentation der reinen Lehre, wenn man genau schaut. Denn dann kann man feststellen, dass die Kassen längst nicht mehr beitragfinanziert sind. Natürlich sind Beiträge die wichtigste Einnahmequelle, aber bei weitem nicht ausschließlich.

In Summe nahmen die Kassen 2007 12,8 Mrd. Euro ein. Davon entfielen nur 10,7 Mrd. auf Beiträge. Neben e-Card- und Rezeptgebühren u.ä. stammte mit 1,1 Mrd. Euro der Großteil der Differenz aus Steuermitteln. Doch ist das nicht alles, denn auch in den Beiträgen steckt eine ganze Menge Steuergeld. Hier waren mit 1,3 Mrd. Euro der größte Brocken die Hebesätze (eine Art steuerfinanzierter virtueller Arbeitgeberbeitrag für Pensionisten, die ja keinen Arbeitgeber mehr haben). Insgesamt stammten fast 3 Mrd. Euro der Einnahmen aus Steuern und gerade einmal 9 Mrd. Euro sind wirklich „reine Beiträge“.

Wenn man nun betrachtet, dass die öffentlichen Ausgaben in unserem Gesundheitssystem 20 Mrd. Euro ausmachen, dann ist also nicht einmal mehr die Hälfte beitragsfinanziert. Von einem „reinen Bismarckmodell“ ist längst nichts mehr übrig. Und das unsere Kassenbeiträge verglichen mit Deutschland, in dem Bismarck noch viel „sauberer“ gelebt wird, halb so hoch sind, wird damit auch verständlich.

Weil aber die Entscheidungsträger bei der reinen Lehre bleiben wollen (hauptsächlich um die eigene Macht zu erhalten), ist es unmöglich, dass zwischen dem steuerfinanzierten und dem beitragsfinanzierten Teil ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Die damit verbundenen Schnittstellenprobleme führen zwar, neben echten Qualitätsproblemen, zu enormen Mehrkosten, aber solange diese Lücke durch Selbstbehalte gefüllt und der Mythos des besten Systems aufrecht erhalten werden kann, wird es den Mächtigen kaum nötig scheinen, über ihren Schatten zu springen und sich auf ein „neues“ System zu einigen – oder wenigstens einmal ehrlich darüber zu diskutieren.

Dieser Artikel wurde im Jänner 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.