Vereinbarungsumsetzungsgesetz 2024 – wieder eine Gesundheitsreform ohne Reform

Wie zu erwarten, wurde es auch diesmal „die größte Strukturreform“ aller Zeiten. Eine Analyse des Vereinbarungsumsetzungsgesetz 2024 ist dann aber doch eher anders.

In Memoriam Franz Bittner!

(Lesezeit 15 Minuten)

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Legistik

Das Vereinbarungsumsetzungsgesetz 2024 ist nur ein Sammelsurium alter Gesetzestexte, die, wie etwa der §6 das Bundesgesetz über die Dokumentation im Gesundheitswesen, mehr oder weniger wortgleich, einfach neu Fristen erhalten haben. In dem Fall ein Gesetz aus 1996, das die Diagnose-Codierung im ambulanten Bereich mit Frist 2001 vorschrübe, wird nun mit der neuen Frist 2025 versehen – Jetzt aber wirklich.

Ich glaube, es gibt keinen einzigen neuen Paragraphen. Die „Wiederverwertung“ alter Gesetze, die, wie die viele Rechnungshofberichte nach jeder Reform darlegen, in den letzten Jahrzehnten konsequenzlos ignoriert wurden (i.e Lex imperfecta), ist defacto das Rückgrat dieser „größte Strukturreform“. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass man nicht viel verhandeln muss. Es ist, wie Franz Bittner es ausdrücken würde: „… alter Wein in noch älteren Schläuchen“. Und weil es eben nichts neues ist, und die Texte ja schon verhandelt wurden, stehen sie daher weitgehend außer Streit. Das erspart viel Arbeit.

Allerdings, diese Texte so anzupassen, dass die „neuen“ Ideen reinpassen und Extra-Wünsche, v.a. der Länder, enthalten sind, macht diese praktisch unlesbar. Was genau der Inhalt mancher Passagen ist, wissen vermutlich nur die Verhandler selbst, wenn überhaupt. Der Normunterworfene allerdings kann kaum sagen, wie der Staat in einer bestimmten Situation handeln wird. Zu unklar und unscharf sind die Gesetze. Wenn etwa § 14 Gesundheits-Zielsteuerungsgesetzes den Aufbau eines Termin-Managementsystems „… mit Fokus auf den extramuralen Bereich im extramuralen Bereich durch die SV ..,“ vorsieht – was ist damit gemeint?

Hinter solchen Formulierungen versteckt sich ein Haufen Pfründe- und Willkür-Absicherung, der zeigt wie schwach verhandelt wurde. Im Beispiel, ich kann nur mutmaßen, dürfte es darum gehen, dass die Länder weiterhin für den intramuralen, die SV für den extramuralen ambulanten Akutbehandlungsbereich zuständig, und weiterhin niemand für irgendein Ergebnis verantwortlich ist. Spitalsambulanzen bleiben Ländersache, Kassenordis die der SV. Ich denke, das ist von Anfang an totes Recht – und weil das jeder Verhandler wusste, haben die nur darauf geachtet, dass da keine Fallstricke bei der Kompetenzverteilung enthalten sind und das hin und her schieben der Verantwortung nicht gefährdet wird. Das Resultat ist dann eben so ein Text.

Ein weiteres Beispiel dazu, ist der neue §62g des Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetzes, in dem es um die Geschäftsordnung der nun in Bewertungsboard umbenannten Medikamentenkommission geht – weiter unten widme ich mich diesem Ding noch inhaltlich.

Herauszufinden, was das heißt, dauert. Am Ende ist klar, dieses „Board“ ist keines, es sind eher zwei – eines für die Spitäler, eines für die Kassen. Was sie eint ist, dass der Bund den Betrieb zahlen muss.

Im Grunde ist das KaKuG mittlerweile genauso unlesbar wie das ASVG – erschwerend kommt jedoch hinzu, dass dieses ja nur eine Grundsatzfestlegung ist – die Ausführungsgesetze werden dann je Land noch einmal in Eigenregie verändert, oder eben nicht. Durchblicken wird keiner.

Apropos Bewertungsboard; dass endlich englische Fachausdrücke, die es oft eben nur in Englisch gibt, eingeführt wurden, ist gut. Etwa die „spending reviews“ (Gesundheits-Zielsteuerungsgesetzes § 6 Abs. 2; warum die unter Anführungszeichen und klein geschrieben wurden weiß ich nicht), die bereits auf OECD-Ebene definiert sind (Anm.: das die in Ö wirklich kommen, ist unwahrscheinlich)

Zusätzlich sind die Gesetze aber voll von neuen merkwürdigen Austriaca, also nach Fachausdrücken klingende, aber nur in Österreichs Verwaltung vorkommende, Wörter, wie eben das denglische BewertungsBoard. Dann gibt es da noch die „analoge Vergleichbarkeit“ – wenn die weißen Schimmel im Amt wiehern. Auch der Ausdruck „tagesklinisch/tagesambulant“ klingt super, sagt aber nichts aus. Nicht neu aber erhalten blieben uns die zu Klassiker gewordenen „Best Point of Service“ (wohl in Anlehnung an Point of Care) und natürlich „Primärversorgungseinheit“.

Beeindruckend ist der „Ärztebereitstellungsdienst“ im §341ASVG. Diese Neuschöpfung, die es erst seit wenigen Monaten und exklusiv in NÖ gibt, und eine Art Poolärztedienst darstellt, nachdem das Leiharzt-Modell (landeseigene Spitalsärzte sollten an unbesetzten Kassenordis verliehen werden) nicht funktioniert,  findet nun Einzug in Bundesgesetze  – und erhält dort entsprechende Privilegien. Er, der Ärztebereitstellungsdienst, darf tun, was er will, weil es für ihn ergänzende oder abweichende Regelungen geben darf. Willkür eben! Wer oder was dieser Dienst ist, ist völlig unklar, offenbar ist es einfach ein Etikett, das man irgendwo draufkleben muss – ob ich sowas „einrichten“ darf?  nobody knows!

Und, anders als echte Pooldienste, werden die dort tätigen Ärzte, auch wenn es kaum etwas angestellteres gibt, sicherheitshalber gesetzlich zu Selbstständigen gemacht – die gesetzlich verordnete Nicht-Scheinselbständigkeits-Selbständigkeit

Ja, der §47a des Ärztegesetzes 1998 – ÄrzteG 1998 wird erweitert! Zuerst die Nicht-Scheinselbständigen, weisungs-, orts und zeitgebundenen Notärzte, jetzt die Poolärzte – der Paragraph entwickelt sich.

Aber die Legistik ist nicht nur schlecht, sondern auch schlampig. Ein Beispiel wäre die simple Umbenennung der Rahmen-Gesundheitsziele in die Gesundheitsziele -Österreich. Erstere sind ja schon ziemlich alt und unerreicht, die „neuen“ haben daher nichts mit den „alten“ zu tun – außer im § 9 G-ZG, dort hat man „vermutlich“ vergessen“ das „alte“ durch das „neue“ zu ersetzen!

Vermutlich, oder eben auch nicht. Nur wer dabei war, weiß, ob das bewusst oder unbewusst war. Weder Erläuterungen noch Text geben den Willen des Gesetzgebers klar weiter – also werden es Gerichte machen müssen, sollten jemand Fragen, wohin die Gelder geflossen sind.

Am Ende ist definitiv nicht viel Arbeit in diese Reform geflossen – auch wenn das der Minister anders empfinden mag.

Inhaltlich

„digital vor ambulant vor stationär“

Aufhänger ist „digital vor ambulant vor stationär“. Hier wurden die meisten „neuen“ Texte eingeführt – genauer betrachtet sind es aber nur Erweiterungen der bekannten „ambulant vor stationär“-Gesetze, die es seit Jahrzehnten gibt und deren Ziel immer der Abbau des akutstationären Bereichs bei gleichzeitigem Ausbau der ambulanten Versorgung unter Sicherstellung des Zugangs zu und der Verfügbarkeit von allen notwendigen Leistungen war.

Wenn man Daten anschaut, haben die alten Gesetze kaum gewirkt. Es gab weder einen Ausbau der Spitalsambulanzen noch der Kassenversorgung und auch keinen Abbau des akutstationären Bereichs. Wenn es etwas gab, dann eine Verschiebung mancher vollstationären Leistungen in den, ebenfalls dem akutstationären Bereich zugerechneten, tagesklinischen Bereich. Was die vollstationäre Patientenzahl betrifft, sind wir immer noch Weltspitze. Und wer sich mit dem Spitalsbetrieb auskennt weiß, dass Bettenauslastung weiterhin das oberste Ziel der Verwaltung ist – kein Wunder, hängt sowohl das finanzielle als auch politische Überleben der Spitalsstandorte weiterhin von vollen Betten ab.

Warum sollte also das Ziel „„digital vor ambulant vor stationär“ jetzt verwirklicht werden können? Es einfach in ein paar Gesetzen, deren Nicht-Befolgung konsequenzlos ist, reinzuschreiben ist eben nicht genug. Patientenströme können nur dann sinnvoll gesteuert werden, wenn ALLE Anbieter an einem Strang ziehen – und das wäre eine Reform – aber es ist nicht diese.

Gestützt wird die Hypothese, dass sich nichts ändern wird, auch dadurch, dass es keinerlei veröffentlichte Entscheidungsgrundlagen gibt, die zu den politischen Aussagen rund um die erwartete bessere Patientensteuerung gibt. Ein digitales Tool ist ja nur dann hilfreich, wenn es bei bekannten Patientenwegen eingesetzt wird. Das was mit der Reform kommen soll, ist aber nicht mehr, als eine Option Akutpatienten eventuell davon abzuhalten, einen persönlichen Kontakt zu einem Gesundheitsprofessionisten zu verursachen. Die meisten Patienten sind aber eben nicht mehr akut, sondern chronisch. Telemedizin ist also vor allem dort hilfreich, wo es darum geht, chronisch Kranke zu führen – aber davon ist nicht die Rede.

Und nur so als Beiwort: 1450 ist die Telefon-Schmalspurvariante des TeWeb, das seit über 15 Jahren in Gesetzen und Planungen vorkommt, und ELGA hat über zwei Jahrzehnte auf dem Buckel -Papier ist geduldig.

Ärztekammer -Entmachtung

Der „große Wurf“, soll die Entmachtung der Ärztekammer sein, Und Prima Vista ist die Reduktion der Veto-Player in der ambulanten Versorgung tatsächlich etwas richtiges. Nicht weniges wurde auch, aber eben nicht nur, durch die Ärztekammer verhindert – etwa die Einführung von PHC, die über ein Jahrzehnt  mit Weltuntergangsszenarien bekämpft wurde (und auch noch wird, jetzt halt ein bisschen weniger dramatisch) oder ELGA , die ein Spuk wäre, der uns bloß stellt.

Der zweite Blick allerdings führt aber zur Frage, ob die ambulante Versorgungsplanung nun wirklich besser wird, weil DER Blockierer weg ist?

Die ambulante Versorgung ist aufgeteilt in Kassenstellen Ärzte-gmbHs (die es defacto kaum gibt, obwohl sie der Kernpunkt der größten Strukturreform von Stöger waren) Spezialambulanzen, Zentrale Ambulante Erstversorgung, interdisziplinäre  Aufnahmestationen  (die beiden letzteren gibt es, auch wenn das kaum jmd weiß, erst seit 2012 und waren die ersten rechtmäßigen Einrichtungen in Spitälern mit ambulantem Versorgungsauftrag),  kasseneigene Ambulatorien, selbstständige Ambulatorien, PVE, Facharzt-Zentren (Die es bis dato nur gesetzlich, aber nicht real gibt) und Wahlärzte. Alle diese Einrichtungen arbeiten nach unterschiedlichen Regularien und verfolgen unterschiedliche Ziele, von unterschiedlichen Entscheidungsträgern, von denen die Ärztekammer eben nur einer ist – und alle sind nicht aufeinander abgestimmt und liefern keine Daten, da es keinerlei Versorgungsaufträge gibt, auch wenn diese nach dem Zielsteuerung Gesundheit -Gesetz (Gesundheitsreformgesetz 2013)  eigentlich seit 2016 gesetzlich vorgeschrieben wären.

Mit dem Fehlen der Versorgungsaufträge und einem verbindlichen Leistungsspektrum, das durch die Rollenverteilung entstünde, machen im Grunde alle was sie wollen, bzw in den Spitälern als letzter Ausweg, machen müssen, weil es sonst keiner macht. Was wer wo macht wird entweder verhandelt oder willkürlich festgelegt. Egal was Gesetze sagen.

Wenn also jetzt das ÄK-Veto wegfällt, wie werden nun Planungsentscheidungen fallen werden?

Nun, das Veto-Recht der Ärztekammer bezog sich nur auf Ambulatorien und Kassenstellen, die beide nur dann errichtet werden durften, wenn es den nachgewiesenen Bedarf gibt UND die Kammer zustimmt. Weil aber vernünftige Rahmen für die Bedarfsprüfung fehlten und fehlen, wurden diese einfach immer verhandelt – immer. Egal ob das mit EU-Recht vereinbar ist oder nicht. Der Klagsweg ist schlicht für den einzelnen sehr aufwendig.

Und um das Chaos nun aber wirklich zu beenden, kommen die RSGs wieder ins Spiel. Diese Planungsinstrumente sind ebenfalls bald 20 Jahre alt – und versorgungswissenschaftlich völlig wirkungslos, wie die Inhomogenität der Versorgungslandschaft zeigt. Und weil die Wirkungslosigkeit schon vor 10 Jahren offenbar war, wurden eben 2013 in der Zielsteuerung ein Strategisches Ziel definiert, wonach die Versorgungsdichte bedarfsorientiert sein soll.

Und die so bedarfsorientierte Dichte soll dann in den RSGs münden

Geändert hat sich aber bis heute trotzdem nichts Weiterhin stehen einem Mühlviertler nur halb so viele Kassenfachärzte zur Verfügung, wie einem Wiener und die Innviertler liegen 50% häufiger im Spital als die Ost-Steirer.

Würden die RSGs, wie gesetzlich vorgeschrieben, echte Planungsinstrumente nach echten versorgungswissenschaftlichen Regeln, wie ebenfalls gesetzlich vorgeschrieben, sein, es wäre kein Problem, diese zentral in der neuen Reform zu verankern – sind sie aber nicht. Wer die RSGs kennt, und die daraus folgende Inhomogenität der Strukturen und Versorgung, weiß, dass die halt nur willkürlich landespolitische Pläne sind, mit denen Betten auf willkürliche Standorte verteilt werden und mit ein paar unnachvollziehbaren alten Daten der Sozialversicherungen aufgehübscht sind. Selbst die Darstellung des IST-Stands in diesen Plänen ist mindestens 4 Jahre alt – also weit weg von irgendwas Ernstzunehmendem. Aber das dürfte nicht gestört haben, als der § 21 Abs. 3 Gesundheits-Zielsteuerungsgesetzes entsprechend installiert wurde

Die SV können gar nichts in einem RSG sicherstellen. Sie sind schon rein rechtlich gar nicht in der Lage, den Ländern bezüglich Betten, Tageskliniken oder Ambulanzen Vorschriften zu machen. Der Gesetzgeber für alle ambulanten Leistungen, die nicht in einer Kassenordi erbracht werden, sind die Landtage, und die Exekutive dieser Gesetze sind die Landesregierungen. Egal was in diesem Paragraphen steht, er ist nicht mit der Verfassung im Einklang, steht aber schon seit vielen Jahren so im Gesetz – und hat niemanden interessiert. Ein Hinweis darauf, dass es eben totes Recht ist.

Doch durch die Einführung des Abs. 2a (der Rest ist grosso modo alt, obwohl 1a eben aus einem anderen ignorierten Gesetz stammt) soll der RSG jetzt offenbar als Maß des Versorgungsbedarf festgelegt werden. Etwas das er ohnehin schon sein müsste, aber eben nie wurde – doch jetzt per Gesetz sehr detailliert bis auf Bezirksebene sein muss, da die RSGs verbindlich erklärt werden können, und damit den Bedarf fixieren. Das klingt etwas theoretisch, wird aber sehr reale Auswirkungen haben.

Statt einen Bedarf an einem bestimmten Ort prüfen zu lassen, werden nun Standorte verbindlich festgelegt und ersetzen die Bedarfsprüfungen (auch diese Idee ist bereits viele Jahre alt). Heißt, was nicht im RSG drinnen steht, darf es auch nicht geben. Wie weit das geht oder gehen kann ist aktuell nicht klar – könnten dadurch theoretisch etwa alles Kassenstellen in einer Region abgeschafft werden? Oder verdoppelt? Könnten alle Ambulanzen gesperrt oder verdoppelt werden? Könnte man überall jetzt Spitäler errichten oder sperren, nur weil es einem Landespolitiker gefällt? Niemand kann das auf Basis dieses Gesetzes erahnen, was wo wie warum passiert. Umso mehr, als dass alle Zahlen, Daten und Fakten, die den Planungen zu Grunde liegen sollen, weiter geheim und einer Begleitforschung entzogen bleiben. Gegen einen RSG vorzugehen war schon immer schwer, wird aber jetzt sehr viel schwerer. Aber ob diese RSGs auch einer rechtsstaatlichen Prüfung standhalten? Wohl nicht.

Ich wiederhole – wären die RSGs auch nur ansatzweise versorgungswissenschaftlich korrekte Planungsinstrumente und nicht Willkürakte, würde die Idee gut sein. Aber sie sind nun einmal nur willkürlich und nicht bedarfsorientiert. Und weil eben die Versorgung in jedem Winkel Österreichs derartig unterschiedlich ist, aber alles den gleichen Gesetzen und Planungsgrundlagen unterliegen muss, müsste praktisch überall geprüft werden, ob die RSGs nicht gegen Verfassung und EU-Recht stehen. Doch das wird nicht passieren. „Wo kein Kläger da kein Richter“ dürfte der Grundgedanke dieser Gesetze sein – Jetzt, wo ein Institutioneller Veto-Player mit Freude und Geld für jegliche Klage durch alle Instanzen, die Ärztekammer, nicht mehr im Spiel ist, ist es nicht abwegig anzunehmen, dass in diesem Gemauschel und Getauschel sich keiner trauen wird, gegen ein Land zu klagen. Es wird also die Willkür der jetzigen Entscheidungsträger unkontrolliert wachsen, und die Versorgung der politischen Ökonomie ausgeliefert sein.

Bewertungs-Board

Und die Willkür wird nun auch auf Medikamente im Spital ausgedehnt – mittels Bewertungsboard. Im Grunde ist das ein neuer Ausdruck für die Medikamentenkommission, die, obwohl 10 Jahre alt, halt niemanden interessiert hat, möglicherweise, weil sie nicht klar definiert wurde und von der normierten Arzneimittelkommission unklar abgegrenzt war

Um aber diesem toten Pferd Leben einzuhauchen hat man dem Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz nun ein neues Hauptstück gegönnt

Ein Hauptstück, das allerdings ohne eigene Paragraphen auskommt – denn es wurde schlicht der § 62 aus dem Hauptstück F um die Buchstaben d, e, f, g, h, und i ergänzt. Vermutlich wollte man sich Arbeit ersparen – aber wie gesagt, die Legistik ist furchtbar.

Würde das alles so laufen wie im NICE  in UK, also evidenzbasiert, transparent und nachvollziehbar, dann wäre das völlig in Ordnung. Das wird es aber nicht – denn das Board ist voll von Politikern, die Daten haben, die sonst niemand sehen darf, und deren Gesetzesvorgabe so unklar ist, dass alles oder nichts hier beschlossen werden kann. Denn während die Verteilung der Steuergelder auf 100tausendstel genau (also auf 10.000€ genau) geregelt ist, wird sich das Bewertungsboard mit voraussichtlich hochpreisigen und spezialisierten Medikamenten beschäftigen. Was hochpreisig ist, entscheiden sie selbst.  Und zwei Gummi-Absätze definieren was „spezialisiert“ ist

Was immer da auch jetzt hinter verschlossenen Türen passiert, es wird (1) geheim bleiben, da auch hier alle Zahlen, Daten und Fakten nicht offiziell sein werden, und die Geschäftsordnung vermutlich Geheimhaltung vorschreiben wird, und  (2) gesetzeskonforme Willkür sein – dafür sorgt dieses Hauptstück G. Und das es nur ums verhandeln (oder eben Mauscheln und Tauscheln) geht zeigt der §62i – bei dem sich ein Anführungszeichen aus einem offenbar anderen Text erhalten hat – wie gesagt, die Legistik ist unterirdisch

Conclusio

Länder und Kassen kriegen deutlich mehr Geld als früher, um weiter das zu machen, was offenbar bisher nicht funktioniert hat. Wahnsinn ist es, wenn man immer das Gleiche tut, und meint, es kommt was anderes heraus.

Wenn was Neu ist, dann könnte man eventuell behaupten, dass die Länder nun noch weniger Regeln haben, die sie missachten müssen, wenn sie tun was sie wollen. Und die Kassen kriegen jetzt erstmalig direkt zusätzliches Steuergeld, um eben das zu machen was sie wollen.

Wo genau die vom Minister zitierte „viele Arbeit“ lag und wo der Tisch steht, an dem jetzt alle zusammensitzen  – unklar

Aber, es ist klar die Handschrift der Länder zu erkennen – die wollen ja kein Spital sperren, brauchen dazu aber billige Arbeitskräfte – und die wurden fixiert.

Dafür sorgt die wenig diskutiert Änderung des Ärztegesetzes 1998 – ÄrzteG 1998 bei den Bestimmungen der Ausbildungsstätten für die Ausbildung zum Facharzt  § 10.

Diese Änderung wird wirkmächtig, und kommt ganz ohne Ziele aus. Es ist ein Rückschritt in der Ärzte-Ausbildung. Die Zahl der Ausbildungsstellen wird dadurch schlagartig steigen, weil nun ein Facharzt bis zu zwei Absolventen und fast unbegrenzt Studenten im KPJ ausbilden darf. Viel wird da nicht gelehrt werden, aber Dienstpläne können, so die Hoffnung der Länder, mit billigem Personal gefüllt und Spitalsstandorte gesichert werden – und „digital vor ambulant vor stationär“ konterkarieren. Alleine, die Absolventen werden da nicht mitspielen und ins Ausland gehen. Und das wird gute Gründe liefern, mehr MedUnis zu errichten. Und so beginnt alles von vorne.

15 Jahre und 290 Rezepte später ist die Prognose infaust

15 Jahre lang habe ich in der Wiener Zeitung 290 Rezepte gegen faktenfreie Gesundheitspolitik geschrieben – aber keines der Rezepte wurde eingelöst.

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Ich finde es eigentlich tragisch, dass ich glaubte, ich könne einen Beitrag liefern, die populistische in eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik zu transformieren. What a fool i was, what an elevated fool

Dabei war ich nicht naiv – Es war klar, dass diese Kolumne keine Massenaufklärung sein kann. Aber eine interesseierte Öffentlichkeit zu erreichen, war das Ziel. Vor allem aber Entscheidungsträger! Denn auch wenn die Leserzahl gering sein mag, die Kolumne war in jedem Pressespiegel aller Institutionen – und deswegen weiß ich, alle waren Informiert und haben auch alles ignoriert.

Am Ende haben die gewonnen, die die eigenen Pfründe verteidigen und am Patientenwohl desinteressiert sind. Die Kammerfunktionäre und Landespolitiker, die Gewerkschafter und Bürgermeister. Mit Intransparenz und Schönreden, aber vor allem nach dem Floriani-Prinzip, haben sie sich tapfer gegen Zahlen, Daten und Fakten gestellt und alle Probleme in einem Ressourcenmangel gesehen, deren einzige Lösung im „MEHR“ liegt.

Dabei wurde oft und immer wieder von vielen Stellen analysiert, dass es nicht Mangel sondern Ineffizienz, also Verschwendung ist, die zum Problem wurde. Dann wurde diskutiert, dann ignoriert um ein, zwei Jahre später wieder aufzupoppen und neu analysiert, diskutiert und wieder ignoriert zu werden. Ein ewiger Kreis. Und erst wenn es MEHR, von was auch immer gab, wurde der Kreis durchbrochen –nur für kurze Zeit, weil das Problem ja nicht gelöst, sondern nur mit MEHR zugedeckt wurde. Und alles begann von vorne. Wer aber nicht weiß, wie man Ressourcen richtig einsetzt, der wird eben nie genug davon haben.

Am imposantesten ist da sicher der Ärztemangel. Der hat uns 15 Jahre begleitet, die Lösung war und ist MEHR Mediziner. Und obwohl Ärzte und Studienplätze immer mehr wurden, der „Mangel“ blieb. Besonders absurd ist der aktuelle Ruf zur Rückkehr in die gute alte Zeit vor dem EU-Betritt, als unsere Unis noch uns gehörten und nicht von germanischen Horden von Numerus Clausus-Flüchtlingen gestürmt wurden. Es wiederholt sich immer alles.

Und das gilt überall. Das Pharmabashing ist ebenso ein Dauerbrenner, wie der Machtkampf um Wahlärzte und Hausapotheken, die Wartezeiten und volle Kassenordinationen, die fehlende Palliativversorgung, die fehlende Abstimmung zwischen Pflege und Spital, und die Spitalslastigkeit des Systems, In den letzten Jahren kam, wie erwartet und vorausgesagt, das „unlösbare“ Pflegeproblem dazu.

All das fußt auf der Verweigerung der Institutionen transparenter zu werden. Weiterhin werden Daten zurückgehalten und geheime Verhandlungen geführt – denn das Narrativ des weltbesten Gesundheitssystem der Welt, das halt nur, wegen „Totsparen“, an Ressourcenmangel leidet, darf nicht verändert werden – koste es, was es wolle. Als ich vor 15 Jahren hier begann statt MEHR eben ein STATT aufzuzeigen, wurde ich gerne als selbsternannten Experten diffamiert, und habe mich doch zu einem realtiätsgeprüften Propheten hochgearbeitet. Damit ist also jetzt hier Schluss. Die Kolumne wird in der Wiener Zeitung wegen Bedeutungslosigkeit spurlos eingestellt werden können. Und Ich? ab ins Biedermeier – damit der Vormärz bald kommt.

Kognitive Dissonanz und Verdrängung

   Wer im 10. Stock aus dem Fenster springt, kann auf Höhe des 3. Stocks behaupten: Es ist eh nichts passiert.

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   Üblicherweise ist die kognitive Dissonanz ein unangenehmes Gefühl, das dann auftritt, wenn das, was man erlebt, im Gegensatz zu dem steht, was man erwartet. Das kann natürlich damit zusammenhängen, dass man eine sichere Erwartung hat, die absurd ist. Wer meint, er könne einen Ball in den Weltraum schießen, sollte erkennen, dass seine Meinung schlicht falsch ist, und keine kognitive Dissonanz entwickeln beziehungsweise dieses eben dadurch lösen, dass er die Gravitation anerkennt und damit seine Erwartungen anpasst. In vielen Fällen sollten die Selbstreflexion der eigenen Meinung und die Anpassung derselben an die Realität zur Lösung beitragen können.

   Anders ist es, wenn man sich mit dem österreichischen Gesundheitssystem beschäftigt. Wer sich hier mit realen Daten und Fakten beschäftigt und dann die Aussagen und Maßnahmen der Entscheidungsträger beobachtet, wird die kognitive Dissonanz nicht los.

Wenn etwa der Ärztemangel verkündet wird, obwohl wir pro Einwohner mehr Ärzte haben als jedes andere EU-Land, und die Forderung nach mehr Studienplätzen erhoben wird, auch wenn wir 60 Prozent mehr Absolventen haben als im EU-Schnitt – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn Intensivbetten überfüllt sind, obwohl wir doppelt so viele Betten haben wie die meisten in der EU. Oder wenn Wartezeiten auf orthopädische Operationen länger sind als in Großbritannien, obwohl wir die meisten Orthopädiestationen pro Einwohner haben – dann passt was nicht zusammen. Oder wenn es keine Termine bei Kassenurologen gibt, obwohl wir doppelt so viele haben wie Deutschland. Oder wenn versprochen wird, dass im öffentlichen System alle alles auf allerhöchstem Niveau, immer und überall und kostenlos kriegen, aber Kinder unterversorgt sind – dann passt was nicht zusammen. Oder auch allgemeiner, wenn jahrzehntelang ständig davon gesprochen wird, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben, um das uns alle beneiden, aber niemand auf der Welt auch nur versucht, unsere zersplitterte Kompetenzlage nachzuahmen, ganz im Gegenteil. Oder wenn festgehalten wird, dass in unserem System die E-Card reicht und keiner die Kreditkarte braucht, obwohl wir seit vielen Jahren zu den Ländern zählen, die hohe Zuzahlungen und viele Zusatzversicherte haben – dann passt was nicht zusammen.

   Jede faktenfreie Behauptung und jede faktenfreie Maßnahme, denn von denen gibt es dank politischem Aktionismus ebenfalls unendliche viele, führt bei denen, die sich mit Daten und Fakten beschäftigen, zu einer kognitiven Dissonanz.

Die Frage ist: Warum funktioniert das alles im Politikgeschäft eigentlich? Es müssten ja doch irgendwie alle diese kognitive Dissonanz spüren. Ja, eigentlich schon – wenn da nicht die Geschichtenerzähler wären, die dem, der den Ball tritt, einreden, er solle nach dem Tritt sofort die Augen schließen, und ihm dann mit der Inbrunst der Überzeugung erklären, der Ball sei tatsächlich im Weltraum gelandet. Ja, auch so lässt sich eine kognitive Dissonanz lösen – mit realitätsverweigernder Verdrängung.

„Wiener Zeitung“ vom 25.05.2023  

Der plötzliche und nicht behebbare Ärztemangel

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   Wir werden das Problem nie wieder los – einfach, weil es politisch so probat ist.

   Halten wir fest: Etwa 10.000 österreichische Maturanten melden sich pro Jahr für den Medizinaufnahmetest „MedAt“ an, rund 7.500 nehmen tatsächlich teil. Zur Orientierung: Es gibt 20.000 AHS-Maturanten. Kann es sein, dass 7.500 Maturanten dafür brennen, Ärzte zu werden? Selbst in den stärksten Jahren bei freiem Zugang gab es selten mehr als 3.000 Studienanfänger. Warum soll ein Test Berufungen erhöhen?

   Die Zahl der Absolventen hat sich übrigens kaum verändert. Der „MedAt“-Tet hat die Drop-out-Quote gesenkt – sonst nichts. Seither haben mehrere Privatunis eröffnet. Und so ist die Zahl aller Anfänger mit mehr als 2.500 höher als zu Zeiten der Ärzteschwemme. Ab etwa 2025 werden wir jährlich mehr als 2.000 Absolventen haben – ein historischer Höchstwert, der 60 Prozent über dem EU-Schnitt liegt.

   Weil eine Medizinerausbildung mit etwa 400.000 Euro Steuergeld sehr teuer ist, wurden zwischen 1995 und 2010 regelmäßig Ärztebedarfsstudien erstellt. Jede hat deutlich weniger Ärzte als bedarfsnotwendig ausgewiesen, als es real Ärzte gab, also einen Ärzteüberschuss belegt – die Zeit der Ärzteschwemme.

   In den frühen 2000ern wurde gewarnt, wenn die Ausbildungskapazitäten nicht begrenzt würden, werde es tausende arbeitslose Ärzte geben. Damals ging man davon aus, dass es neben dem öffentlichen System, das ja verspricht, dass alle alles auf allerhöchstem Niveau bekommen, und zwar immer, überall und gratis, kein Parallelsystem geben könne. Eine Wahlarztversorgung wie heute schien absurd und keinesfalls erstrebenswert.

   Die Ärztekammer war damals die wichtigste Stimme, die vor der Ärzteschwemme warnte: Es sei zynisch, und man müsse nun endlich der laufenden Illusionszerstörung der Jugend ein Ende setzen. Es war die Zeit der taxifahrenden Jungärzte. Doch kammerintern beschäftigte man sich um 2005 mit einer anderen Frage: der Finanzierbarkeit der Wohlfahrtsfonds. Diese Pflichtzusatzpensionsfonds der Ärzte waren damals noch rein umlagefinanziert. Versicherungsmathematische Studien hielten fest, dass entweder Pensionen gekürzt oder Einnahmen erhöht werden müssten. Pensionskürzungen kamen nicht in Frage, die einzige Chance auf höhere Einnahme bestand und besteht aber nur darin, dass immer mehr Ärzte einzahlen.

   Um 2005/2006 kippten die Argumente der Ärztekammer von der Ärzteschwemme in den Ärztemangel – plötzlich und ansatzlos. Die Argumente, die 2014 zur Gründung der MedUni in Linz führten, nutzten diese versicherungsmathematischen Studien, interpretierten aber einen drohenden Ärztemangel hinein; mit Erfolg. Doch hat die zusätzliche Uni die Diskussion über den Ärztemangel beendet? Nein!

Noch merkwürdiger ist, dass die Ziele, die in diesen versicherungsmathematischen Studien genannt werden – also wie viele Ärzte zur Finanzierung der Wohlfahrtsfonds benötigt werden – übertroffen werden (2020: 48.000 vs. 45.000), doch auch das ohne Auswirkung auf den postulierten Ärztemangel.    Heute arbeiten rechnerisch um 50 Prozent mehr Ärzte am Patienten als im EU-Schnitt. Weil aber wesentliche Player politisch vom Ärztemangel gut leben, wird er uns erhalten bleiben.

„Wiener Zeitung“ vom 27.04.2023                            

Die Akademisierung der Gesundheitsberufe

   Oder: „Für was brauchen wir das? Das hat es ja noch nie gegeben.“

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   Wir schreiben das Jahr 1900: Der Garnisonsarzt aus dem örtlichen und seit Jahrhunderten bestehenden Spital geht ins fußläufige Lokal am Braunauer Stadtplatz. Er ist eigentlich Militärarzt, aber das Spital wurde nun an einen Orden übergeben, und so ist er jetzt Chirurg. Das liegt in der Familie, seit sein Urgroßvater an der Chirurgenschule in München ausgebildet wurde, waren alle Chirurgen, wobei allerdings erst sein Großvater dafür studierte.

   Im Lokal trifft er, wie erwartet, seinen langjährigen Freund, einen gestandenen Landarzt. Und als das zweite Bier getrunken ward, fragt der Chirurg, ob es denn wirklich nötig sei, dass Landärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Der Landarzt pflichtet ihm bei. Diese Akademisierung der Landärzte sei völlig unnötig. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht. (Landärzte waren damals angelernt!)

   Zeitsprung: Im Jahr 1970 schließt ein Landarzt seine Ordination, um sich mit einem Freund im Stadtcafé zu treffen. Früher war das ein Bierlokal, in dem sein Ururgroßvater schon saß. Der war auch schon Landarzt, hat das aber nicht studiert. Und als die beiden nach dem Verlängerten auf Cola-Rot umstiegen, fragt der Landarzt seinen Freund, ob es denn wirklich nötig sei, dass Zahnärzte Matura und Studium brauchen. Er versteht nicht genau warum. Sein Freund, der Dentist, versteht diese Akademisierung der Zahnheilkunde auch nicht. Er habe für seinen Job sowas noch nie gebraucht.

   Zeitsprung: Im Jahr 2025 setzt sich die Urururgroßenkelin des Garnisonsarztes neben ihren Mann, einen Dr.med.univ., ins Auto. Sie wollen alte Freunde treffen. Da in den 1990ern die beiden Familien herausgezogen sind, trifft man sich nun regelmäßig in der Pommerschen Schlosstaverne. Ihren Mann lernte sie kennen, als er den Turnus im Braunauer Spital machte. Danach wurde er Gemeindearzt mit allen Kassen, sie blieb im Spital und ist nun Oberschwester. Bei den Freunden, die sie treffen, handelt es sich um die Familie des eingesessenen Zahnarztes, der wegen einer Rechtsänderung nun sogar zwei Doktortitel trägt. Anders als sein Vater – der hatte nicht einmal studiert. Und wie Sie alle da so sitzen, der Hauptgang abserviert und die dritte Flasche Zweigelt zum Atmen geöffnet wird, stellt der Zahnarzt die Frage, ob es denn wirklich nötig sei, dass Krankenschwestern Matura und Studium brauchen.

Nach kurzem Stöhnen erklärt die Oberschwester, diese Akademisierung der Pflege sei völlig sinnlos. Sowas habe sie in ihrem Job noch nie gebraucht. Ihr Mann pflichtet ihr bei.   

Als alle in ihren Autos heimfahren, sicher zu betrunken für normale Bürger, aber für die regionale Prominenz noch völlig im Rahmen, erhalten beide Anrufe der Kinder: Der Sohn des Zahnarztes hat gerade die letzte Prüfung seines Masters in Advanced Nursing Practice geschafft. Die Tochter des Landarztes schickt vorab per WhatsApp den letzten Schein für ihre Ausbildung zur Fachärztin für Orthopädie und Traumatologie. Jetzt heißt es lernen für die Facharztprüfung, und sie will wissen, ob sie für einen Monat wieder zu Hause einziehen kann.

„Wiener Zeitung“ vom 30.03.2023 

Equip4Ordi und die Unschuld der Kammerpolitiker

Sicher ist, dass es in einer der Wiener Ärztekammer zugeordneten Firma, der ÄrzteEinkaufs-Service -Equip4Ordi GmbH, einen begründeten Verdacht von Malversationen gibt.

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Sicher ist auch, dass der jetzige Ärztekammerpräsident von Wien und Österreich, Johannes Steinhart, nicht als Beschuldigter geführt wird. Ebenfalls sicher ist, dass das Präsidium der Österreichischen Ärztekammer ausrückt, um für alle die Unschuldsvermutung zu reklamieren, und der Präsident höchstpersönlich verlautet, dass eine nicht näher genannte Gruppe eine angebliche Malversation in einer aus der Ärztekammer ausgelagerten GmbH für eine gezielte Intrige gegen ihn nutze.

Die ausgelagerte GmbH hat er bei der Gründung noch so angepriesen: „Wir bieten damit Kolleginnen und Kollegen für ihre Ordinationen eine benutzerfreundliche, einfache und professionelle Plattform, über die sie rasch und zu günstigen Preisen ihren gesamten Ordinationsbedarf abdecken können.

“ Das „Wir“ ist schon ein Hinweis auf eine Identifikation des damaligen obersten Vertreters der niedergelassenen Ärzte und jetzigen Präsidenten mit dieser Firma. Doch wofür braucht eine Pflichtvertretung so eine Firma? Ist es Aufgabe der Kammer, in den freien Markt einzugreifen? Ging sie davon aus, dass sie besser Preise verhandeln kann, weil sie auf einer Monopolmacht sitzt?

Warum auch immer, die Kammer ist für diese Firma nach außen aufgetreten. Doch wem gehört diese? Sie gehört nicht direkt der Kammer, und es ist auch nichts Ausgelagertes, weil es eben keine Aufgabe der Kammer ist, Händler zu sein. Es ist eine Verschachtelung diverser GmbHs, die am Ende eben auch die inkriminierte GmbH besitzt und an deren Anfang die Ärztekammer für Wien steht.

Kein vertrauenerweckendes Modell. Das sollte politisch Verantwortlichen schon auffallen, wenn sie denn Planstatt Marktwirtschaft probieren. Aber wer schmiedet da eigentlich eine persönliche Intrige?

Da gibt es den Investigativjournalisten Ashwien Sankholkar von „Dossier.at“. Dieser deckt regelmäßig Merkwürdigkeiten in der Ärztekammer auf. Etwa den mittlerweile wieder vergessenen 327,5-Millionen-Euro-Deal samt gewaltiger Provisionen rund um den Wiener Grabenhof. Und wenn ein Whistleblower dorthin Unterlagen schickt, die eine Straftat aufdecken könnten, ist das keine Intrige, selbst wenn es ohne hehre Absicht geschieht.

Wie also kann jemand das als Intrige gegen die eigene Person empfinden? Denknotwendig doch nur, wenn in der Kammer jeder etwas zu verbergen hat und es ein Agreement gibt, dass alle den Mund halten. Der moralische Standard ist also: Jeder deckt den anderen bei seinen Straftaten? Wenn das so wäre, dann träfe es jene, die seit Jahrzehnten in führenden Positionen sind und vom Wohlfahrtsfondsskandal der 2000er Jahre über Gerüchte, wie Koalitionen und Stimmen gekauft werden, um die eigenen Positionen zu festigen, bis zu den Wahlbetrugsvorwürfen im vorigen Jahr alles politisch überlebt haben, hart und persönlich.

Aber wenn das wirklich wahr sein sollte, dann hat dieses Kammerverhalten einfach die Grenzen erreicht, an der Korruption eben aufbricht. Das ist nichts Persönliches

„Wiener Zeitung“ vom 23.02.2023

Die kognitive Dissonanz in der Gesundheitspolitik

   Gesundreden, Ausreden und den Schwarzen Peter weiterschieben, bis man selbst an die eigene Fiktion glaubt – oder österreichische Gesundheitspolitik.

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   Vorige Woche gab es im ORF-„Report“ zwei Berichte zu Gesundheitssystemen: erst aus Österreich, dann aus England.

   Ersterer titelte „Notfall Gesundheitssystem“ zweiterer „Britischer Kollaps“. Ersterer zeigte eine lange Warteschlange vor einem Kassenaugenarzt, zweiterer eine Frau, die sich Zähne selbst zog, weil sie keinen Zahnarzttermin bekam. Beide zeigten also irgendwie das Gleiche und sollten eigentlich auch das Gleiche illustrieren.

   Auskenner wissen, dass genau genommen Ersteres ein Beispiel, Zweiteres eine Anekdote ist – aber sei’s d’rum. Wesentlich ist eher die politische Reaktion von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), der zu beiden Berichten befragt wurde. In Österreich sieht er eine angespannte Situation, und wenn er es nicht schafft, alle an einen Tisch zu holen, droht, dass nicht mehr „E-Card statt Scheckkarte“ gilt und unser gutes Gesundheitssystem an die Wand fährt. Für England weiß er, dass der Kollaps die Folge der Privatisierung sei, von der wir weit entfernt seien.

   Beeindruckend, diese kognitive Dissonanz. Die Warteschlange hier ist weit entfernt von den fehlenden Terminen dort. Und noch mehr, die E-Card hier und die Scheckkarte dort macht den Unterschied.

   Scheckkarte? Etwas, das praktisch keiner unter 50 Jahren kennt, wer schreibt noch Schecks aus? Aber die Zielgruppe ist ja eher 65 plus. Der Sager „E-Card statt Scheckkarte“ ist übrigens plagiiert, auch wenn das Original aus den frühen 2010er Jahren moderner war und eine Kreditkarte nannte. Notabene wurde auch der An-die Wand-Sager plagiiert. Der stammt von Hans-Jörg Schelling, der ihn 2010 als Hauptverbandschef zur Einstimmung des damaligen „Reformvorhabens“ in den Ring warf.

   Wie dem auch sei, wenn Scheckkarte für Privatausgaben steht, sind die bei uns höher als in England. Wenn also irgendwo die Scheckkarte nötiger ist, dann eher bei uns als dort. Bei uns hat fast jeder zweite Erwachsene eine Privatkrankenversicherung, dort nur jeder zehnte.

   Wenn diese Aussagen nicht auf Einbildung zurückgeführt werden können, die das Ergebnis des dauernden Gesundredens, der Ausredens und des Weiterschiebens des Schwarzen Peters ist, müssen die Aussagen als Lüge aufgefasst werden.

   Aber auch das ist belanglos. Sicher ist nur, dass es Österreichs Gesundheitssystem geschafft hat, sich Jahrzehnte aus jedem Reformansatz herauszuwinden. Die Folge ist eine enorme Ineffektivität. Denn obwohl wir so ziemlich die meisten Arztkontakte und Spitalsaufnahmen haben, erzeugt unser System viel zu wenig Gesundheit – was dazu führt, dass die Älteren viel mehr Medizin, Pflege und Betreuung brauchen als in den meisten anderen Ländern. Wenn jetzt die Babyboomer in das Alter kommen, in dem aus Wehwehchen Wehs werden, und die gleiche Inanspruchnahme wie die heutigen „Alten“ brauchen, dann wird es krachen.

   Andere Länder bereiten sich seit Jahrzehnten auf diese Entwicklung vor, und von dort wissen wir, dass es wenigstens ein Jahrzehnt braucht, bis Reformen greifen; doch das ist für die Babyboomer dann zu spät. Also wird es wohl anders werden – mit noch mehr „nicht vorhandener“ Privatmedizin und noch größerer kognitiver Dissonanz.

„Wiener Zeitung“ vom 26.01.2023

Jetzt aber alle an einen Tisch!

Vorsicht, Sarkasmus – mit deutlichen Zügen verdrossener Gemütsstimmung.

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   Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist.

   Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre.

   So die Worte einer Studie des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2018. Was waren diese Bemühungen? Da gab es den Kooperationsbereich, der um 2000 eingeführt wurde. Er wurde in den Reformpool umgewandelt, in dem jeder (Länder und Krankenkassen) 1 Prozent seines Umsatzes einspielen sollte, um gemeinsame Projekte zu realisieren. Dazu wurden Landesgesundheits-Plattformen und die Bundesgesundheits-Agentur geschaffen, die, einem gesetzlichen Auftrag aus den 1990ern folgend, eine gemeinsame Sichtweise für das gesamte Gesundheitssystem schaffen sollte.

   Diese waren ebenso erfolglos wie die Reformpool-Projekte. Also musste was Neues her. Eifrig wurde reformiert und das Zielsteuerungs-Gesetz aus der Taufe gehoben – gut verwaltet von Landes-Zielsteuerungskommissionen und der darüber schwebenden Bundeszielsteuerungskommission, in der alle (Länder und Krankenkassen) gemeinsam das System anhand von konkreten Zielen steuern sollten. Hehre Ziele wurden in Verträgen festgelegt, und es gab ÖSGs, RSGs, LAP, ÜRVP, DIAG, LEICON und PVEs.

   Aber offenbar wurde dabei etwas Wesentliches vergessen: Die Partner saßen nicht an einem Tisch.

   Zwar dürfte es bis 2007, solange war ich dabei, einen gemeinsamen, immer sehr großen Tisch gegeben haben, aber danach eben immer seltener. Anders wäre der neueste Vorschlag von Gesundheitsminister Johannes Rauch kaum zu verstehen, wenn er meint, dass er „alle Player“ an einen Tisch bringen will.

   Wer hätte gedacht, dass es so simpel sein kann! Einfach diesen vielen Gremien einen Tisch sponsern – und schon halten sich alle an Gesetze und Verträge. Klar könnten einige meinen, dass das Ministerium als Aufsichtsbehörde auch mittels transparenter Berichterstattung, wie seit 20 Jahren gesetzlich vorgesehen, einfach offenlegt, wie wenig sich „alle Player“ an eigene Gesetze und Verträge halten, und das dann auch kommunizieren. Aber die verstehen Politik nicht.

   2023 kommt einmal der Tisch, oder auch zehn Tische. Um 2035 werden dann Stühle angeschafft. So gegen 2050 wird es so weit sein: „Alle Player“ haben eine gemeinsame Sicht des Gesundheitssystems entwickelt, es wird aus 15 Krankenkassen, einer AUVA, 9 Ländern und 10 Ärztekammer bestehen, die über 34 Säulen finanziert werden. Die Säulen werden ohne Murren vom Bund „gefüllt“ – der das Geld in Plantagen auf eigenem Grund zieht.

„Wiener Zeitung“ vom 29.12.2022   

Die Notfallambulanz ist für Notfälle da – eigentlich

   Ein ganz normaler Vormittag in einem ganz normalen Spital.

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   Die Notfallambulanz eines großen Spitals an einem Vormittag unter der Woche: Eine Ärztin (!) kommt mit ihrer Mutter, die seit mehreren Monaten (!) offensichtlich in einem Prozess des Absinkens in die Demenz ist. Sie meint, die Mutter „zittere“ immer so, wenn sie was vergesse oder Dinge verlege. Das gehöre einmal angesehen. „Ich bin eh vom Fach.“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Eine stark übergewichtige Frau, klagt, seit Wochen (!) „nix mehr essen zu können“. Sie habe das Gefühl, nicht mehr gut schlucken zu können. Das sei nicht normal. Was könne das denn sein? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein Mann mit einer einige Tage (!) alten Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz sagt auf die Frage, warum er nicht sofort gekommen sei, wenn es ihm denn so schlecht gehe (auf dem Einweisungsschein steht etwas Bedrohliches – wohl eine Übertreibung des niedergelassenen Arztes, um den Patienten loszuwerden): „Über das Wochenende und den Zwickeltag tut ihr ja sowieso nix!“ Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Beleidigung.

   Eine Frau kommt sitzend mit der Rettung (!), weil ihr Ellenbogen seit Tagen (!) wehtut. Mit der Tasche in der Hand auf beiden Beinen (gesund) sucht sie sich im Warteraum den besten Platz (mit Blick zum Fernseher). Zu den Untersuchungen will sie mit dem Transportdienst herumgefahren werden. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Ein alter Mann mit schwerer Demenz kommt mit Gattin, die ihn daheim versorgt. Der Frau ist mehr oder weniger bewusst, dass für sie die Versorgung kaum noch zu schaffen ist, vor allem nicht die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr. (Noch) kein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall – dafür eine Sozialaufnahme.

   Ein Mann mit einer Einweisung vom Hausarzt in die Notfallambulanz kommt wegen Knieschmerzen. Das Knie zeigt keinerlei Entzündungszeichen. Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, definitiv kein Notfall.

   Dann kommt ein Mann mit Hautausschlag am Rumpf: „Den hab ich schon lange!“ – „Wieso gehen Sie nicht zum Hautarzt?“ – „Da bekomme ich den Termin im Jänner!“ „Haben Sie überhaupt angerufen und gesagt, dass es dringend ist und sie auch Wartezeiten in Kauf nehmen?“ Er sei jetzt da, und überhaupt, was bilden wir uns überhaupt ein, solche Fragen zu stellen? Weder vor noch nach den Untersuchungen ein Anzeichen einer vitalen Bedrohung, also definitiv kein Notfall – dafür aber eine weitere Beleidigung.

   Dazwischen kommen zwei Rettungen mit echten Akutfällen, die nur schwer im niedergelassenen Bereich behandelt hätten werden können – naja, eigentlich nicht, weil ein Fall ein Kreislaufkollaps (ohne Ohnmacht) bei einem Mann ist, der an diesem Tag als Verkäufer begonnen hat – das viele Stehen halten nicht alle gleich von Anfang an aus. Dann ist der Vormittag vorbei – und alle die dort gearbeitet haben, fragen sich: Was genau macht eine Notfallambulanz eigentlich aus?

   Und nein, das ist keine dichterische Freiheit, sondern ein Report.

„Wiener Zeitung“ vom 24.11.2022  

Ein Facharzt für Allgemein- und Familienmedizin

  Die Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen ist bis heute schwammig.

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   Warum die Einführung eines Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sein könnte, versteht kaum jemand – sie könnte es aber tatsächlich sein. Aktuell ist der Allgemeinmediziner ein völlig undefiniertes Wesen – überspitzt formuliert, darf er praktisch alles. Das kommt aus der Nachkriegszeit, als Österreich viele Ärzte hatte. Im Krieg waren viele gebraucht und quasi am Fließband ausgebildet worden. Nach dem Krieg gab es daher einen Überschuss.

   Was aber damals wie heute ein Problem war, war die flächendeckende Versorgung mit Fachärzten. Und so hat man den „Hausärzten“ eben alles erlaubt. Sie hatten Röntgengeräte, führten Geburten und Abtreibungen durch, operierten in Vollnarkose etc. Mit dem „Dr. der gesamten Heilkunde“ oder eleganter „Dr. medicinae universae“ war praktisch das Recht verbunden, so gut wie alles zu tun.

   Spätestens ab den 1970ern, als Forschung und Spezialisierung zunahmen, war das eigentlich obsolet. Aber eben nur eigentlich. Denn wir ändern nur ungern etwas. Der „Dr.med.univ.“ ist daher auch heute noch ein undefinierter „Alleskönner“ und „Allesmacher“ ohne klares Profil oder klare Rolle im Gesundheitswesen. Und so darf es nicht verwundern, dass sich die meisten mit Homöopathie, Ästhetischer Chirurgie, TCM und was sonst noch verdingen. Ein Blick auf die Leistungsangebote der „Hausärzte“ zeigt das deutlich. Und nur so nebenbei: Es gibt davon etwa 14.000, aber nur 4.000 davon haben einen Kassenvertrag – 10.000 wollen keinen, weil das System nicht weiß, was es von ihnen will, und es besser ist, sein eigenes Ding zu machen.

   Was auf der Strecke blieb, war die Entwicklung einer modernen Gesundheitsversorgung. Und um nun eine solche zu ermöglichen, wäre ein Schritt, die Ausbildung, Kompetenz und Rolle der „Hausärzte“ im Gesundheitswesen zu definieren. Eine Facharztausbildung macht das möglich – auf den ersten Blick – und nur auf den ersten.

   Denn wenn wir uns anhören, was der „neue“ Facharzt für Allgemein-und Familienmedizin alles machen soll (das Aufgabengebiet umfasst die primäre Gesundheitsversorgung, insbesondere die ganzheitliche, kontinuierliche und koordinative medizinische Betreuung; beinhaltet ist die Gesundheitsförderung, Krankheitserkennung und Krankenbehandlung einschließlich der Einleitung von Rehabilitations-und Mobilisationsmaßnahmen aller Personen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Art der Erkrankung, unter Berücksichtigung des Umfelds der Person, der Familie, der Gemeinschaft und deren Kultur), wird sofort klar, dass dafür eine Verfassungsänderung nötig wäre. Ja, eine Verfassungsänderung, weil praktisch für jede einzelne Aufgabe im System jemand anderer zuständig ist. Die Fragmentierung des Systems lässt nicht zu, dass so ein Facharzt seine Aufgaben erledigt. Das weiß der Gesundheitsminister natürlich – und alle anderen, die das so beschlossen haben, wissen es auch.

   Wagen wir einen zweiten Blick, erkennen wir: Mit dieser Reform wird die verpflichtende Ausbildungszeit der Jungärzte im Spital wie auch in der Lehrpraxis länger. Und weil Lehrjahre keine Herrenjahre sind, wird am Ende also nur die billige Arbeitskraft junger Ärzte mehr. Das ist sicher keine Weiterentwicklung, aber trotzdem ein tolles Ziel für Politiker

„Wiener Zeitung“ vom 27.10.2022