Der Lockdown und die Impfpflicht

   Das Alles-oder-nichts ist etwas für Hasardeure, aber nicht für Regierungen.

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   Es ist beeindruckend, wie wenig differenziert unsere Regierungen (vom Bund abwärts über Länder und Kammern bis zu Gemeinden) nach so langer Zeit agieren. Wider besseres Wissen setzen sie weiter auf kurzsichtige und populistische Maßnahmen und überlassen das Lernen anderen,

   Wie war das etwa, als die Ampel-Karten eigeführt wurden – dezentral sollten Gemeinden und Bezirke Maßnahmen setzen und voneinander lernen. Geblieben ist davon nichts. Nicht einmal Bundesländer lernen voneinander, wenn man das Burgenland und Oberösterreich anschaut. Klar, lernen könnte man ja nur aus Fehlern, die will aber niemand gemacht haben.

   Und jetzt ein Lockdown für alle und überall, weil Österreich „zu klein“ sei und kein „Fleckerlteppich“ werden solle. Und im Frühjahr kommt die allgemeine Impfpflicht. Keinerlei Gedanken, was man hätte anders machen können oder vielleicht noch könnte, keine Diskussion über Zielgruppen und Anreizmodelle, nein: „Die intensive Aufklärung hat nicht gereicht, jetzt kommt die Pflicht für alle“ – hau drauf, und Schluss!

   Unsere Regierungen haben es nicht geschafft, wenigstens ein paar Gruppen zu differenzieren und zielgruppengerecht zu agieren. In Österreich – und das ist nicht neu, wenn wir an die Masern-Impfdiskussion vor zwei Jahren denken – haben wir relativ wenige Befürworter. Die aktiven, also die, die nicht nur dafür sind, sondern auch aktiv impfen gehen, stellen etwa 60 Prozent. Dafür haben wir viele Gegner, die – dank der absurden eminenzbasierten Medizin, die ohne große Probleme jeden esoterischen Schmarren mit dem Qualitätssiegel „Arztvorbehalt“ heiligt – in ihrer Evidenzleugnung gehätschelt werden. Doch auch wenn wir doppelt so viele wie üblich haben, stellen sie nur 5 bis 6 Prozent.

   Und dann ist da die große Gruppe dazwischen. Diese reicht von „Ich bin eh dafür, hab aber noch keine Zeit gehabt“ über „Mich freut es nicht, mich damit zu beschäftigen, und wenn die anderen gehen, auf mich kommt es nicht an“ bis hin zu „Ich trau dem Ganzen nicht, weil ich dem System misstraue“.

   Diese inhomogene Gruppe erreicht man durch differenzierte und konsequente Aufklärung und Motivation. Aufklären heißt nicht, einfach immer wieder zu sagen: „Impfen ist sicher.“ Wer dem Sager nicht traut, traut auch nicht dem Gesagten! Das verfängt nur bei denen, die eigentlich nur motiviert werden müssen. Aber auch das ist nicht simpel. So kann etwa Geldbelohnung den Zweifel erhöhen – denn wenn „die“ mir was zahlen, damit ich es nehme, dann ist es wohl nicht gut . . . Klar ist aber, dass Strafen am wenigsten bringen. Die führen sicher zum Schulterschluss mit denen, die dem System nicht trauen – und gemeinsam werden sie die Gegner stärken.    Aber so differenziert zu denken und zu handeln, liegt unseren Regierungen nicht. Lockdown und Impfpflicht für alle, weil die Ungeimpften unbelehrbar sind – das reicht. Wie gut das funktioniert, dazu eine kleine Anekdote: In meinem Bekanntenkreis gibt es eine dreiköpfige Familie, die Eltern akademisch gebildet, alle sind gegen alles geimpft – außer gegen Covid. Da sind sie echte Gegner geworden. Eine grandiose Leistung, aus Impfbefürwortern Impfgegner zu machen.

„Wiener Zeitung“ vom 25.11.2021

Assistierter Suizid

   In der wesentlichen gesundheitspolitischen Frage – Lebensqualität – wird prokrastiniert.

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   Das Erkenntnis, dass das Verbot der „Hilfeleistung zum Suizid“ verfassungswidrig war, ist der vorläufige Höhepunkt einer Diskussion, die unsere Politiker seit Jahrzehnten meiden. Zu wenig kann man damit gewinnen, zu viel verlieren.

Die Basis der Vermeidungsstrategie ist die Gretchenfrage, ob Lebensqualität Teil unseres Denkens und Handelns im Gesundheitswesen (das ist mehr als nur das Gesundheitssystem!) sein darf. Bis dato wurde die Frage durch Politiker eindeutig mit „Nein“ beantwortet. Da ein Leben unendlich viel wert ist, ist der einzig gültige Grundsatz die Lebensverlängerung, und die im Grunde um jeden Preis. Nun, im täglichen Leben war und ist das anders.

   Die Vermeidung jeglicher Diskussion über Lebensqualität führte und führt zu gewaltigen Problemen, denn die Lebensqualität eines Menschen kann derart absinken, dass das Leben zur Qual wird. Je früher und wirksamer man Lebensqualität adressiert, desto länger könnte diese Qual hinausgezögert oder sogar vermieden werden. Doch dazu muss man Lebensqualität als Parameter erlauben. Dessen Messung – ja, das ist möglich – stellt stark auf Selbstbestimmung ab. Und weil der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Suizid“ gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstößt, kommt Lebensqualität plötzlich als wesentlicher Parameter ins Spiel – das irritiert alle.

   Neu ist das alles nicht – neu ist nur, dass die Zahl derer, die (in Friedenszeiten und in Freiheit) jene Phase des Lebens erreichen, in der Lebenslänge gegen Lebensqualität abgewogen wird, seit den 1970ern steigt. International haben Gesundheitswesen darauf mit dem Konzept der Palliativversorgung reagiert. Um die Jahrtausendwende – also rund 20 Jahre, nachdem das Konzept international bereits anerkannt war – stand fest: Wir werden um das Thema nicht herumkommen.

   Nach jahrelangen Streitereien ohne Lösung (wir wissen noch nicht einmal, ob Palliativversorgung zum Gesundheits-, oder zum Sozialsystem gehört – eine wesentliche Verfassungsfrage!) hat man sich 2005 auf ein Konzept geeinigt, aber dieses eben nicht umgesetzt. 2015 wurde, um die Untätigkeit zu kaschieren, die parlamentarische Enquete „Würde am Ende des Lebens“ abgehalten, um am Ende doch wieder nur Lippenbekenntnisse abzugeben. Eine endlose Geschichte, wie das Beispiel eines Hospizes in Salzburg, das 2012 nach zehn Jahren Betrieb wieder geschlossen wurde, zeigt.

   Jetzt hat eben der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass das alles so nicht geht – wenn wir als Gesellschaft Menschen im Sterben alleine lassen, dann dürfen wir ihnen nicht verbieten, zu sterben. Aber weil man dabei als Politiker noch immer nichts gewinnen kann, wird einfach mehr Geld für die Palliativversorgung versprochen – denn „mehr“ löst bekanntlich alle Probleme. Wir kleben also wieder einen Flicken auf den alten Schlauch, um das Loch zu stopfen, und erkennen weiterhin nicht, dass es der Druck im Schlauch ist, der das Loch gerissen hat.

   Die eigentliche Frage – Lebensqualität versus Lebenslänge – wird nicht gelöst. Und damit wird unser Gesundheitswesen weiterhin auf Lebensverlängerung um jeden Preis ausgerichtet bleiben – koste es, was es wolle

„Wiener Zeitung“ vom 04.11.2021