Das ASVG – Indikator schlechter Gesundheitspolitik

Österreich hatte wirklich einmal visionäre Gesundheitspolitiker – schade nur, dass visionäre Gesundheitspolitik nichts mehr gilt, weil Politiker immer kürzer denken und bereits fünf Jahre nicht mehr überblicken wollen.

Wer kann sich noch erinnern, als 1956 ein Meilenstein in der Sozialpolitik gesetzt wurde – das allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG).

Klar waren damals schon manche österreichischen Kompromiss-Dummheiten dabei, als man etwa für alle möglichen, heute als „kleine Kassen“ bekannte, Interessensgruppen Ausnahmen verankerte. Aber im Großen und Ganzen war das ASVG hochmodern. Das Gesundheitssystem umfasste alles, von der Vorsorge bis zur Pflege, und für alles waren die Kassen verantwortlich. Es war dezentralisiert in politkunabhängige Gesundheitssprengel, die viel Autonomie besaßen. Die gesamte Finanzierung erfolgte aus einer Hand – der Hand der Kassen. Und es war nach dem Umlageprinzip (dem berühmten Generationenvertrag) ausschließlich beitragsfinanziert. Die Beiträge wurden, um tagespolitische Diskussionen zu vermeiden, von den Arbeitgebern und –nehmern (der berühmten Sozialpartnerschaft) selbstverantwortlich verwaltet (die noch berühmtere Selbstverwaltung).

Überall wurde diese Idee gerühmt und manche Länder haben sie sogar umgesetzt.

Es wäre nicht Österreich, wenn wir das ASVG nicht über Gemauschel und Gewurstel verwässert hätten. Weil wir die Lohnnebenkosten nicht steigen lassen wollten (und Machtkämpfe tobten), wurden mehr und mehr Bereiche aus dem ASVG ausgegliedert und Kompetenzen zersplittert. Zuerst wurde die Pflege den Gemeinden und Ländern übergeben, kurz darauf die Krankenhausfinanzierung (die Kassen zahlen nur mehr eine, von den tatsächlichen Kosten unabhängige, Pauschale), dann die Spitalsambulanzen (bis 1995 hatte jede Spitalsambulanz einen Kassenvertrag – jetzt wird pauschal bezahlt). Auch große Teile der Vorsorge und der Rehabilitation gehören heute nicht mehr den Kassen. Die Lohnnebenkosten sind trotzdem gestiegen – Politik ist wenigstens so gierig wie die Finanzwelt.

Am schlimmsten verwässert ist wohl die Kassen-Finanzierung. Eigentlich sollte diese ja über Beiträge erfolgen und ohne Steuern auskommen; nur so wäre es eine echte Selbstverwaltung. Das ist aber schon lange nicht mehr so. Welche Einnahmen die Kassen haben, weiß keiner mehr genau. Denn neben den Beiträgen erhalten sie heute aus Steuern einen „Hebesatz“, der die Arbeitgeberbeiträge der Pensionisten „simuliert“ (eine eigenartige Interpretation der Beitragsidee und des Generationenvertrages). Dann erhalten sie Einnahmen aus der Tabaksteuer, weiters noch die Selbstbehalte und Gebühren, und nicht zuletzt, die Rückerstattung der Mehrwertssteuer (MwSt) auf Medikamente.

Ach ja, die MwSt auf Medikamente! Da ist was Skurriles im Gange. Im Vorwahlchaos wurde diese von 20 auf 10 Prozent gesenkt. Nun muss man wissen, dass die Kassen bisher pauschal 70 Prozent der abgeführten MwSt zurückerhalten haben (also von den 20 Prozent wurden 14 zurückbezahlt). Da aber jetzt die Steuer auf 10 Prozent gesenkt wurde, müsste der Bund weniger zahlen. Das erkennend, haben die Kassen bereits deponiert, dass sie davon ausgehen, dass weiter in gleicher Höhe bezahlt wird. Die „Mehreinnahmen“ bleiben natürlich bei den Kassen. Eine neue, beitragsunabhängige, steuerfinanzierte Einnahmequelle taucht am Horizont auf.

Nach mehr als 60 Novellen ist das ASVG nicht mehr als ein Rumpf, der nur lebt, weil die Verflechtungen der Selbstverwaltung mit der Parteipolitik nicht mehr entwirrt werden können. Visionär ist das nicht mehr. Mal sehen, ob wieder ein Weltkrieg nötig ist, um eine große Reform zu machen!

Dieser Artikel wurde im Oktober 2008 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Kühle Rechner oder machthungrige Funktionäre?

Die Sozialpartner übernehmen die Macht im Gesundheitssystem – und haben dabei nicht einmal ihr eigenes Geschäft im Griff. Wohin führt das?

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   Wer liest schon ein technokratisches Papier, das von irgendwelchen Vereinen geschrieben wird? Kaum jemand! Mit diesem Kalkül sind wohl auch die Autoren des Reformvorschlags „Zukunftssicherung für die soziale Krankenversicherung“ vorgegangen. Anders ist es nicht zu erklären, da das, was da veröffentlicht wurde, nicht gerade von hoher Kompetenz zeugt. Und trotzdem ist es die Basis einer Reform.

   Nichtsdestotrotz gibt es einige, die sich mit solchen Papieren auseinandersetzen. Dazu gehören unter anderen die Mitglieder der kleinen aber feinen Österreichischen Public Health Gesellschaft. Und es ist nicht verwunderlich, dass diese Kreise, die halt eher denken als plaudern, schon bei Bekanntwerden des oben erwähnten Papiers nur ein Kopfschütteln übrig hatten.

   Da ist einmal eine Darstellung der Finanzströme. Abgesehen davon, dass weder Quellen- oder auch nur Jahresangaben zu finden sind, sind die Zahlen alles andere als schlüssig. Das beginnt damit, dass offenbar alle irgendwie im Vorhinein Geld haben. Steuer- und Beitragszahler, die das Geld bereitstellen, kommen gar nicht vor. Ebenfalls wird nicht dargestellt, wofür das Geld ausgegeben wird, also für Krankenhäuser oder Ärzte etwa. Ausgewiesen wird nur, wie es hin und her geschoben wird. Und siehe da, die dargestellten Institutionen wie Kassen oder Länder schieben das Geld so lange hin und her – wenigstens aus Sicht der Sozialpartner – bis die Länder 4,4 Milliarden Euro Einnahmen ohne Ausgaben haben, während die „armen“ Sozialversicherungen 2,7 Milliarden mehr ausgeben als sie einnehmen.

   Noch skurriler wird es, wenn man all das Hin- und Hergeschiebe summiert, dann werden es alleine durch die Bewegung des (Monopoly)Geldes innerhalb eines Jahres 430 Millionen Euro mehr!? Eigenartige Vermehrung – wird da spekuliert oder einfach falsch gerechnet?

   Doch nicht nur die Zahlen sind unschlüssig. Im Kapitel Spitäler wird festgehalten, dass es im EU-Durchschnitt 17,14 Aufnahmen in Akutkrankenhäusern pro 100 Einwohner gab. Für Österreich lag dieser Wert bei 26,09 und damit um 52 Prozent über dem EU-Schnitt. Soweit so gut. Ein bisschen weiter unten auf derselben Seite liest man dann voll Erstaunen, dass Verlagerungen vom Spitalsbereich in den kassenfinanzierten Bereich stattfinden. Was jetzt? Rein oder raus? Oder beides? Natürlich stimmt das nicht für das Hanusch-Krankenhaus, das einzige Krankenhaus, das von einem Sozialpartner (Wiener Gebietskrankenkasse) betrieben wird. Denn wie man nachlesen kann, entlastet das besagte Krankenhaus – offenbar als einziges Österreichs – das Land Wien in seinem Versorgungsauftrag. Von diesem wird hiefür allerdings nur unzureichend Kostenersatz geleistet. Auch eine einzigartige Situation?

   Wer nun hofft, es gäbe ein ausführlicheres Papier, das dem Ganzen zugrunde liegt, der wird enttäuscht. Es gibt nichts, zumindest nichts, das man als Bürger zu sehen bekäme. Aber all diese Widersprüche sind offenbar vollkommen egal; denn „kreative Buchführung“ scheint ja in „gewerkschaftseigenen“ Einrichtungen nicht unüblich zu sein.

   Und so verwundert es nicht, dass es den ansonsten eher unpolitischen Mitgliedern der oben erwähnten Gesellschaft sogar ein mitleidiges Wort entlockt: „Mir tun der Bundeskanzler und die Frau Minister leid, mit so unklaren Phrasen werden die gefüttert und dürfen dann dafür die Verantwortung übernehmen . . .“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gewerkschaft und Wirtschaftskammer doch eher an der Macht als an der Sache interessiert sind.

„Wiener Zeitung“ Nr. 99 vom 20.05.2008 

Die Ohnmacht der Patienten

Eine Stärkung der Sozialpartner in der Gesundheitspolitik hätte zur Folge, dass Patienten, Steuer- und Beitragszahler immer weniger zu entscheiden haben. Kein guter Weg.

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   Wussten Sie, dass Sie ein Mitspracherecht haben, wenn es um Ihre Krankenkasse geht? Nein? Da geht es Ihnen wie den meisten. Fakt bleibt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber, auch wenn sie es nicht wissen, mit ihrer Stimme bei Arbeiter- und Wirtschaftskammerwahlen entscheiden, welche Fraktion wie viele Vertreter in die Vorstände der Sozialversicherungen entsendet. Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die die Beiträge ja praktisch bezahlen müssen, verwalten also theoretisch die Kasse über ihre gewählte Vertretung selbst. Klappt die medizinische Versorgung in den Kassenordinationen nicht, wären dann die gewählten Gewerkschafts- und Wirtschaftskammerfunktionäre schuld – sehr theoretisch.

   Wenn der niedergelassene Arzt kaum mehr Hausbesuche macht, weil er gemessen am Aufwand so gut wie nichts daran verdient oder eine Gemeinde dringend einen zweiten Arzt bräuchte, aber nicht bewilligt erhält, wird wohl eher der Politiker von seinen Wählern zur Verantwortung gezogen als ferne Kassenobleute. Die Fraktion sozialdemokratischer Gewerkschafter wird kaum die nächsten AK-Wahlen verlieren, weil ihre Funktionäre die Kassen in die Pleite geführt haben oder die Zahl der Kassenärzte zu gering ist.

   Die Sozialpartner haben sich mit ihren Versicherungen eine Nische geschaffen, in der sie für die österreichischen Patienten kaum greifbar sind. Zum einen ist überhaupt nur etwas mehr als ein Drittel aller Österreicher bei den Arbeiter- und Wirtschaftskammerwahlen stimmberechtigt. Zum anderen messen die Österreicher den Sozialpartnern mit nur knapp 50 Prozent Wahlbeteiligung – natürlich nur, wenn Wahlbeteiligung etwas aussagt – offenbar oder irrigerweise eine untergeordnete Bedeutung bei. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass zwar 85 Prozent der Arzt-Patienten-Kontakte Menschen über 65 Jahre, also Pensionisten, betreffen, diese aber nicht einmal wahlberechtigt sind. Die Entscheidungsträger der österreichischen Sozialpartner müssen sich also ausgerechnet jener Gruppe, die am meisten auf das Gesundheitswesen angewiesen ist, nicht einmal zur Wahl stellen.

   Geht es nach dem Willen der Sozialpartner, entscheiden sie künftig auch über die Geldmittel für die Spitalsversorgung, die bislang in die Verantwortung der Länder fiel. Das österreichische Gesundheitssystem, genauer genommen nur die Akutversorgung, ist dann endgültig in der Hand eines Monopolisten, der negative Folgen von Fehlentscheidungen nicht fürchten muss.

   Die Politik wäre schlecht beraten, wenn sie das Ruder im Gesundheitssystem zugunsten von Nischen-Monopolisten wie den Sozialversicherungen aus der Hand gibt. Wenn die Patienten unzufrieden sind, wird sich der Volkszorn über jenen entladen, die greifbarer sind als Gewerkschafts- und Wirtschaftskammerfunktionäre. Die Rechnung für schlechte Gesundheitsversorgung werden Regional-, Landes- und Bundespolitiker präsentiert bekommen. Den Sozialversicherern dann aber die Schuld für eine Wahlschlappe zu geben, wird schwer zu argumentieren sein.

   Und wenn es wirklich dazu kommen sollte, dass die Sozialpartner in der Gesundheitsversorgung weiter gestärkt werden, wird die Politik kaum noch Möglichkeiten haben, das Ruder in der Gesundheitspolitik zurückzureißen. Und da die Macht der Sozialpartner dank der Neuauflage von Rot-Schwarz nun auch in der Verfassung steht – eine für künftige Regierungen unumstößliche Tatsache – haben Bürger und Patienten wohl auch keine Chance mehr, ihre gesundheitspolitischen Interessen durchzusetzen.

„Wiener Zeitung“ Nr. 94 vom 13.05.2008