Ohne Landesärztekammer wird alles gut – meint man

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Wie immer, werden in Österreich, wegen fehlender Transparenz, gerne und intensiv „geheime“ Berichte oder Pläne der Gesundheitspolitik diskutiert. So auch der Roh-Bericht des Rechnungshofs, der vorschlägt, die Landesärztekammern zu entmachten, um einen österreichweiten Gesamtvertrag für Ärzte mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zu ermöglichen. Die Hoffnung ist, dass es so zu dem seit Jahrzehnten (das erste Mal 1996 und da gleich für alle Kassen und Spitalsambulanzen) angekündigten einheitlichen Leistungs- und Honorarkatalog für ambulante Leistungen kommen könnte, wenn die Landesärztekammern nicht mehr zustimmen müssen. Nun, in dem Fall ohnehin nur für die ÖGK. Die Kataloge der kleinen Kassen, also der für Selbständige, Beamte, Bauern, Eisenbahner und Bergleute, soll unberührt bleiben – andererseits sind die ohnehin bereits auf Bundesebene organisiert.

Warum also hat man das in den letzten 30 Jahren nicht geschafft, und warum sollen die Landesärztekammern so viel Macht haben, dass deren Abschaffung die Lösung sein könnte?

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Das öffentliche Gesundheitssystem für die ambulante Versorgung kennt drei wesentliche Gruppen von Akteuren: Ärztekammerfunktionäre, Krankenkassenkassenfunktionäre, Landespolitiker. Die Handlungen dieser Akteure sind am besten durch die Public Choice Theorie erklärbar.

Diese Theorie sagt, dass sich politische Akteure nicht primär am „Gemeinwohl“ orientieren, sondern, wie Marktakteure, auch eigennützig und rational kalkulierend agieren. Alle wollen in erster Linie wiedergewählt werden, um Macht, Einkommen und Prestige zu sichern und wenn möglich Budget, Einfluss und Sicherheit zu mehren. Das gilt auch für Ärztekammer- und Krankenkassenfunktionäre, die sich zwar als Interessensvertreter generieren, doch real politische Akteure sind.

Genau dieses Verhalten ist rund um die Spitalsreform in der Steiermark, Stichwort Leitspital Liezen , der anhaltenden Kritik der Kassenfusion, dessen „wahrer“ Hintergrund die Entmachtung der Arbeitnehmer gewesen sei, und natürlich der Verteidigung des Ärztevorbehaltes, Stichwort Impfen in der Apotheke, eigentlich leicht zu erkennen. Aber natürlich geht es offiziell immer um die Patienten und deren Wohl, und nie um die Macht der Akteure.

Nichts desto trotz, könnten diese Akteure über Verhandlungen zu Lösungen kommen. Zwar würde der Patient davon nicht profitieren, und es würde ein sehr teures, bürokratisches, ineffizientes und am Wohl der Akteure ausgerichtetes Gesundheitssystem entstehen, das dafür aber relativ stabil sein würde. Und genau so war es auch sehr lange, denn Geld, spielte lange Zeit keinerlei Rolle.

Klar wurde immer wieder vom Sparen bzw. Totsparen gesprochen, je nach dem wer gefragt wurde, allerdings hat sich das in den Daten nie wirklich widergespiegelt.

In der letzten großen Effizienzstudie, (CAVE! das PDF hat 671 Seiten), im Auftrag der damaligen Regierung (Gesundheitsminister Oberhauser bzw. Stöger) kam die London School of Economics 2017 zu dem Schluss , dass „man davon ausgehen muss, dass die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Falle wäre“.

Warum immer wieder Reformen, wenn man sie denn so nennen darf, angestrengt wurden, um die Effizienz des Systems zu steigern und damit zu sparen, liegt nicht daran, dass es den Akteuren ernst damit gewesen wäre, sondern nur daran, dass Wähler lieber sparsame, als verschwenderische Politiker wählen. Im Grunde ging es also darum notwendige Reformen zu predigen, aber so wenig wie möglich zu verändern – koste es was es wolle. Was im Grunde bedeutet, dass die drei Akteure ihre Macht behalten, auch wenn das zu Kosten der Bevölkerung, sowohl in finanzieller als auch gesundheitlicher Hinsicht, geht.

Seit 2020, sicherlich durch Corona verstärkt, aber nicht ausgelöst, werden die seit Jahrzehnten prognostizierten demographischen Veränderungen immer stärker wirksam. Die Einnahmen werden durch geringere Produktivität geringer, die Ausgaben steigen durch die wachsende Zahl der älter und kränker werdenden Bevölkerung.

Nun spielt Geld eine Rolle

Der Kuchen, um den sich die drei Akteure streiten wächst nicht mehr genug, um das System stabil zu halten.

Selbst innerhalb der SPÖ, traditionell Verteidiger des „Viele-Kassen-Systems“, ändert sich die Einstellung. Gesundheitsminister Sabine Oberhauser meinte 2015, dass die vielen Krankenkassen sowas wie ein System a la carte“ ist, bei dem die Landeskassen und Landesärztekammern wissen was für Patienten richtig ist, und einmal koste das Getränk mehr, einmal das Essen – und deswegen soll sich das Ministerium nicht einmischen. Interessant daran ist, dass sich zwar zwei der drei Akteure praktisch ausmachen konnten was gut ist, aber Patienten als auch Länder dank Pflichtversicherung essen mussten, was vorgesetzt wird. Heute klingt das ganz anders. Gesundheitsstaatssekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig will einen einheitlichen Leistungs- und Honorarkatalog, der aus gerechtigkeitsgründen vom Bodensee bis zum Neusiedlersee gelten soll, auch wenn man dafür die Landesärztekammern bundesrechtlich entmachten muss.

Aber warum entmachten? Welche Macht, und warum haben die die Landesärztekammern?

Um das verständlich zu erklären, sollte man sich die drei Akteure und Ihrer Institutionen als Planeten vorstellen, die um das Zentralgestirn – Macht (und jetzt auch Geld) im ambulanten Versorgungssystem – kreisen. Will man herausfinden wie die sich bewegen, wird man im Dreikörper-Problem landen – Dieses Problem der Astrophysik, versucht die Umlaufbahnen dreier Planten, die sich wegen der Gravitation gegenseitigen beeinflussen, zu berechnen – das gilt als unmöglich und endet immer chaotisch.

Und so wie die Gravitation die Planteten nicht unabhängig voneinander in ihren Umlaufbahnen kreisen lässt, gibt es Kräfte zwischen den drei Akteuren, die wichtigste ist der Gesamtvertrag – Abgeschlossen zwischen Ärztekammer und Krankenkasse, hält er fest, wie viele Kassenverträge es wo genau geben darf, und welche taxativ aufgelisteten Leistungen mit welchen Honoraren finanziert werden.

Das Problem dieses Vertrages ist, dass realpolitisch das Überleben der drei Akteure von dessen Zustandekommen abhängt.

Fällt der Vertrag, müssen gesetzlich die Länder mit Spitalsambulanzen die Versorgung aufrechterhalten. Und obwohl es mit etwa 160 Spitäler sehr viele gibt, ist das verglichen mit den etwa 7.000 Kassenordinationen verschwindend wenig. Eine Flächenversorgung geht nicht über Spitäler. Bedenkt man den Druck der Bevölkerung auf Bürgermeister, wenn eine Kassenstelle unbesetzt bleibt, ist im Falle eines vertragslosen Zustandes ein politischer Umbruch sicher. In keinem Bundesland wären danach die Machtverhältnisse wie sie jetzt sind.

Die Kassen hätten bei dieser Art der ambulanten Versorgung keinerlei Verhandlungs- oder gar Gestaltungsrechte. Sie würden so zu einer reinen Gelddurchlauforganisation, die die eingehobenen Beiträge direkt und pauschal an die Spitalsträger, bzw. deren Dachorganisationen überweist. Und weil sie ohne Vertragspartner ihre gesetzliche Aufgabe nicht erfüllen können, wären die Kassen obsolet – und würden vor der Abschaffung stehen. 

Die Ärztekammern sollten eigentlich die Standesvertretung für alle 50.000 Ärzte sein. Realpolitisch Macht habensie jedoch nur über die 7.000 Kassenärzte. Die rund 35.000 angestellten Spitalsärzte werden über die für Spitäler zuständigen Gewerkschaften vertreten, und Wahlärzte sind defacto unvertreten. Tritt ein vertragsloser Zustand ein, verlieren die Ärztekammern ihre Macht – dann wird die Pflichtmitgliedschaft sehr schnell sehr laut diskutiert. Eine Urabstimmung würden sie nicht überleben.

Fällt eine Kammer fallen vielleicht alle – also auch Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer – beide haben jedoch viele Funktionäre in vielen gesetzgebenden Gremien. Es ist schwer zu glauben, dass sich das Pflichtkammersystem selbst abschafft– immerhin leben Systeme ja davon sich selbst zu erhalten.

Und so hängen alle drei über den Gesamtvertrag zusammen wie die Planeten über die Gravitation. Und dieses chaotische Dreikörper-Problem gibt es aktuell in 10 Ausführungen – je eines für jedes Bundesland und dann noch einmal auf Bundesebene.

Wenn nun die 9 Landesärztekammern aus diesen Systemen verschwinden, dann, so meint man, wäre alles gut. Zwar wird mit dem Abschaffen der Landesärztekammer das System deutlich weniger komplex – von 10-mal unendlich auf einmal unendlich, und das auch nur, wenn parallel dazu die Länder ihre Spitäler an den Bund abgäben (was nicht passieren wird) – das Dreikörperproblem bleibt jedoch bestehen.

Um das zu lösen, muss es zur kompletten Abschaffung eines Akteurs kommen – denn ein Zweikörperproblem ließe sich lösen. Das zu erreichen, benötigt eine Reform, die tief in die Verfassung eingreift. – und zwar so tief, dass bei der Kompetenzverteilung im Gesundheits- und Pflegesystem die Versteinerungstheorie seine Gültigkeit verlöre(was auch nicht passieren wird)

Viel zu viele Patienten

   Ein System, das strukturorientiert, aber patientenfern ist, führt unweigerlich zu hoher Belastung und niedrigen Gehältern bei mäßigem Erfolg – aber zu glücklichen Politikern.

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   Im Sommer stand an dieser Stelle, dass es zahlenmäßig keinen Ärzte- und Pflegekräftemangel gibt – aber auch, dass das die Politik wenig interessiert. Mehr zu fordern, ist einfach sehr beliebt. Doch was sind die Konsequenzen?

Seit langem wird moniert, dass die Versorgung viel zu spitalslastig ist. Zwar haben uns die Deutschen 2020 überholt, aber der Drittplatzierte in der EU behandelt 30 Prozent weniger Patienten im Spital, gegenüber dem EU-Schnitt sind es 60 Prozent. Umgerechnet in Patienten wären das etwa 750.000 vermeidbare Aufnahmen.

   Wenn wir Patienten im Spital behandeln, benutzen wir – gemessen an den Betriebs- ohne Personalkosten – die teuerste Infrastruktur. Wir geben schon ziemlich viel Geld dafür aus, aber verglichen mit anderen Ländern und in Relation zum Patientenaufkommen auch wieder nicht. Und um das zu erreichen, müssen bei uns die Personalkosten niedrig und die Belastung hoch sein.

Im Kassenbereich ist es das gleiche Spiel: extrem hohe Inanspruchnahme bei relativ geringen Ausgaben – viele, zu viele Patienten pro Arzt. Nur so als Beispiel: Ein Hausarzt in Österreich dürfte – die Datenlage hierzu ist schlecht – im Schnitt und in Relation zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung, im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht verdienen. Aber er sieht viermal so viele Patienten pro Tag wie seine internationalen Kollegen. Massenbetrieb eben, wie die Krankenkassen das vorsehen.

   Über die Wahlärzte wissen wir praktisch gar nichts – die Ausgaben dort werden nicht richtig erfasst, weil so getan wird, als würden diese großteils nur unwichtige Medizin betreiben. Da Ärzte umsatzsteuerbefreit sind und nur die bei den Kassen eingereichten Honorare erfasst werden, würde die Statistik nahelegen, dass die Wahlärzte alle am Hungertuch nagen– warum deren Zahl steigt, ist daher ungewiss.

   Und im Pflegebereich? Wir haben es geschafft, derart stark auf informelle Pflege zu setzen, dass Patienten zuerst ins Bett und dann ins Heim gepflegt werden. Auch hier haben wir viel zu viel stationäre Versorgung und damit wiederum die teuerste Infrastruktur und müssen bei den Personalkosten sparen.

Dazu kommt, dass der durchschnittliche Pflegefall, der professionell versorgt wird, bereits ein schwerer Pflegefall ist. All die modernen Pflegeansätze, die präventiv wirken, kommen zu spät. Und aus der Sicht der einzelnen Pflegekraft ist es psychisch daher unglaublich anstrengend, so viele „hoffnungslose“ Fälle zu sehen. Es ist kein Wunder, dass 85 Prozent der mobilen, und 40 Prozent der stationären Pflegekräfte in Teilzeit arbeiten.

   Am Ende verzeichnen wir, weil die Politiker aller Ebenen es nicht schaffen, eine patienten- statt (pfründe-?)strukturorientierte Reform umzusetzen, eine extrem hohe Inanspruchnahme aller Gesundheitsleistungen, ohne hohe Gesundheit und niedrige Pflegebedürftigkeit zu erreichen – und weil wir dann in teuren Strukturen viele Gesundheitsprofessionisten mit möglichst niedrigen Kosten brauchen, spürt jeder einen Mangel und jammert übers Geld – das Prinzip „Mehr in der öffentlichen Versorgung“ führt so zu belastenden Arbeitsbedingung bei relativ niedrigen Gehältern und zu einer Flucht in die Teilzeit oder in den Wahlarztbereich

„Wiener Zeitung“ vom 01.10.2021

Irrtümer bei der Debatte um die elektronische Gesundheitsakte

Wie berechtigt ist die jahrelange Debatte um die Elektronische Gesundheitsakte Elga? Eine Entwirrung der Begrifflichkeiten.

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   Während der endlosen, oft inferior geführten Debatte wurde die Idee von Elga, durch raschere, orts- und zeitunabhängige Verfügbarkeit medizinischer Informationen die Versorgung von Patienten zu verbessern, immer mehr aus den Augen verloren. Die Diskussion hat sich immer stärker von der Versorgungsebene auf die (politische) Systemebene verlagert.

   Die Systemebene dient dazu, die Versorgung entsprechend der politischen Willensbildung zu regeln, also einen Rahmen abzustecken; das System selbst kann weder versorgen noch behandeln.

   Die Versorgung ihrerseits ist von der eigentlichen Behandlung zu unterscheiden. Behandlung bedeutet, dass die richtige Leistung erbracht wird. Aufgabe der Versorgung ist es sicherzustellen, dass der richtige Patient zur richtigen Zeit vom richtigen Arzt behandelt wird.

   Die Unterscheidung zwischen System- , Versorgungs- und Behandlungsebene ist alles andere als eine semantische Spitzfindigkeit; jede Ebene funktioniert nach eigenen Grundsätzen – es ist ein bisschen so wie Auto/Straße/Verkehrspolitik: Alles hängt zusammen, ist aber doch komplett unterschiedlich.

   Wenn Elga, und so war die Gesundheitsakte angedacht, zur Versorgungsebene gehört, dann dienen die in Elga enthaltenen Informationen dazu, die Behandlung zu ermöglichen und die für die Behandlung nötige und von einem besonderen Vertrauen getragene Arzt-Patienten-Beziehung effektiver und zielgerichteter zu gestalten – also darauf zu achten, dass der richtige Patienten schneller beim richtigen Arzt ist, um dort die richtige Behandlung zu erhalten.

   Was Elga dann nicht kann, ist die Versorgung zu regeln oder zu kontrollieren, und schon gar nicht kann Elga den strukturellen Reformstau beheben – das sind definitiv Aufgaben der Systemebene.

   Nichtsdestotrotz wird Elga als Instrument der Systemebene gehandelt. Politiker sehen in Elga ein Instrument, das System transparenter zu machen, Kosten zu sparen und bekannte Systemprobleme (zum Beispiel die hochgradige Fragmentierung der Kompetenzen) aufzubrechen und zu lösen. Dinge, die Elga eigentlich nicht tun sollte und kann.

   Wird Elga als Kontroll- und Steuerungsinstrument, also als Instrument der Systemebene, eingerichtet, ist abzusehen, dass die Informationen, die dort gespeichert werden, nicht dazu dienen werden, die Versorgung zu verbessern. Die Daten werden zunehmend so eingespeist, dass sie der Kontrolle entsprechen (also Absicherungsmedizin fördern), aber nicht so, dass verschiedene Ärzte entlang einer Patientenkarriere miteinander kommunizieren und arbeiten können. In weiterer Folge besteht das Risiko, dass Elga für die Behandlungsebene unbrauchbar wird.

   Wenn es nicht gelingt, die wesentlichen Beteiligten – die behandelnden Ärzte und Patienten – davon zu überzeugen, dass Elga ausschließlich ihnen dient und sonst niemandem, wird Elga zu einem teuren Datenfriedhof, der am Ende die Versorgung nicht verbessert, sondern verschlechtert. Damit wird das System intransparenter, teurer und die Systemprobleme werden größer.

„Wiener Zeitung“ Nr. 016 vom 23.01.2014  

Verantwortungs- und folgenlose Gesundheitspolitik

1969, also vor 44 Jahren, hat die WHO kritisiert, dass unser Gesundheitssystem zu wenig „zentralistisch“ ist. Die Bundesregierung, deren Amtssitz sich in Wien befindet und daher sogar von Regierungsmitgliedern, wenn sie aus anderen Bundesländern kommen, gerne als „die Wiener“ tituliert wird,  hat keine Möglichkeit, in die Spitalslandschaft einzugreifen, damit Spitäler Teil eines umfassenden Planes der Gesundheitspflege werden  – mit willkürlichen und der Qualität abträglichen Folgen. Das Spitalsproblem ist also alles andere als neu oder unbekannt.

Seither wurde enorm viel unternommen, um diese Willkür einzufangen.

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Evidenzbasierte versus Eminenzbasierte Gesundheitspolitik

Hintergrund

Die moderne Definition der Gesundheitsversorgung umfasst alle Dienstleistungen, Aktivitäten oder Beratungen, seien sie gesundheitserhaltender, präventiver, diagnostischer, therapeutischer, rehabilitativer, pflegender oder palliativer Natur. Wesentlich ist nur, dass sie sich mit Krankheiten oder Symptomen, die ein Individuum aufweist, beschäftigen, unabhängig ob sie körperlich, seelisch oder verhaltensmäßig sind, einzelne Zellen oder Gene, Strukturen oder Funktionen des Körpers oder eines Teils des Körpers betreffen. Gesundheitsversorgung ist also geprägt von einer Unmenge an Einzelmaßnahmen (als Beispiel sei nur angemerkt, dass es alleine in Österreich ca. 120 bis 150 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte gibt), die in Summe das Ziel haben sollten, die Gesundheit des einzelnen und der Bevölkerung insgesamt zu verbessern oder zu erhalten.

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Behandlung, Versorgung und Gesundheitssystem – ein Text zum Verständnis

(Lesezeit 10 Min.) In der gesundheitspolitischen Diskussion, genauer in der realen Situation besteht ein erhebliches Sprachgewirr. So wird beispielsweise gerne behauptet, wir hätten das beste Gesundheitssystem (GS) der Welt und argumentiert das dann mit den Erfolgen der onkologischen Medizin oder den angeblich geringen Wartezeiten auf einzelne Therapien etc.. Abgesehen, dass die meisten dieser Aussage arbiträrer Natur, oder maximal als Einzelerfahrung zu werten sind, werden hier Behandlung, Versorgung und Gesundheitssystem in der Regel willkürlich vermischt.

Grundsätzlich gilt aber, dass die Behandlung eines Patienten nicht automatisch etwas mit seiner Versorgung zu tun haben muss, und noch viel weniger mit dem Gesundheitssystem. Daher können Behandlungserfolge auch nicht unmittelbar der Versorgung und schon gar nicht dem Gesundheitssystem zugesprochen werden. Gesundheitssystem, Versorgung und Behandlung sind verschiedene Ebenen, die, wiewohl systemisch miteinander verknüpft, eigenen Regelmäßigkeiten unterliegen.

Interessant, politisch betrachtet aber logisch, sind die Grenzen dieser Ebenen dann klarer, wenn es um negative Nachrichten geht. Wenn im Rahmen eine Behandlung etwas schief läuft, also ein Misserfolg vorliegt, halten sich meist bereits die Verantwortlichen auf der Versorgungsebene, ganz klar aber jene der Systemebene als unbeteiligte schuldlos. Üblicherweise ist ein Spitalsarzt selbst schuld (auch wenn es juristisch anders aussieht) und nicht das Spital und schon gar nicht das Bundesland. Analog im niedergelassenen Bereich. Dort wird es nie zur Schuldhaftigkeit der Kassen oder in weiterer Folge des Gesundheitsministeriums als Aufsichtsbehörde kommen, wenn eine Behandlung erfolglos blieb.

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Eigenlob stinkt – auch in der Gesundheitspolitik

Ich weiß nicht, wie oft man das sagen muss, bis auch Politiker lernen, dass unser Gesundheitssystem schlecht ist. Die Bevölkerung, die weiß es nämlich schon!

„Wenn man in Österreich mit dem weltbesten Gesundheitssystem über eine Reform desselben spricht, ist das so, als würde das Ski-Nationalteam nach einer Reform rufen.“ Das meint ÖVP Gesundheitssprecher Dr. Erwin Rasinger und fügt sich in die Reihen der Gesundbeter und Realitätsverweigerer.

WZ-Leser wissen, dass solche Aussagen, im Gegensatz zu den nachprüfbaren Medaillen der Ski-Asse, alles andere als beweisbar sind. Daher sollte man sie als „populistische Leerstücke“ gleich vergessen. Aber tun wir so, als ob wir nachdenken wollten. Wie beweist man, ob ein System gut ist?

Das ist gut erforscht: Ein System ist bestens, wenn mit den eingesetzten Ressourcen das machbare Maximum an Gesundheit produziert wird. Das System muss dazu Ressourcen für Versorgung und Behandlung aufbringen und dem Bedarf entsprechend sinnvoll verteilen.

In Österreich haben wir sehr viele Ressourcen im Einsatz.

Mit etwa 470 praktizierenden Ärzten (ohne Zahnärzte) pro 100.000 Einwohner liegen wir unangefochten an erster Stelle – und trotzdem wird gerne über Mangel gejammert! Arbeit ist eben dehnbar wie Gummi.

Aber auch mit 110 Millionen Kassenarzt-Besuchen (also ohne Wahlärzte und Spitalsambulanzen) liegen wir vermutlich ganz vorne; hier ist aber das Zählen und Vergleichen nicht so leicht.

Das wir mit 30 Spitalsaufnahmen pro 100 Einwohner spitze sind, ist mittlerweile Allgemeinwissen. Dass wir vermutlich auch die meisten medizinischen Großgeräte wie Magnetresonanz haben, wissen nicht mehr alle, aber auch viele. Und wenn wir gleich fünfmal mehr Spitäler als die Dänen haben, denken die meisten Nicht-Politiker darüber nach, ob’s nicht doch ein bisserl weniger sein dürfte.

All das hat seinen Preis, und so darf es nicht verwundern, dass wir sehr viel Geld ausgeben und hier in der absoluten Spitzengruppe mitmischen.

Also, an Ressourcen mangelt es sicher nicht. Und weil wir das weltbeste Gesundheitssystem haben, dürften wir, dank dessen weiser Ressourcenverteilung erwarten, auch mehr Gesundheit zu finden – oder?

Schauen wir einfach nach.

Unsere Senioren dürfen nicht mit allzu vielen gesunden Lebensjahren rechnen, wenigstens nicht mit so vielen, wie eben in jenen Ländern, die gleich viel ausgeben wie wir. Hier spielen wir nicht in der Oberliga, sondern mit den Nachzüglern – die aber gleich 30 Prozent weniger Ressourcen aufwenden, um das gleiche zu erreichen (ganz abgesehen von den ehemaligen Ost-Block-Ländern, die noch viel weniger ausgeben, um ähnliche Werte zu erzielen).

Dieser Umstand spiegelt sich dann auch in anderen Zahlen wider. Die Zahl der Invalidenpensionisten zählt hierzulande zu den höchsten. Pro 1000 Einwohner im Alter zwischen 55 und 59 Jahren werden 40 wegen Krankheit vorzeitig pensioniert. Überhaupt ist es so, dass die Zahl der Invaliditätspensionen ein Drittel aller neuen Pensionisten ausmacht – das sind in etwa 30.000 pro Jahr. Und logisch weitergedacht ist unsere Bevölkerung ein Pflegefall. Während international bei den über 80-Jährigen mit weniger als 25 Prozent Pflegebedürftigkeit gerechnet wird, sind es bei uns fast 60 Prozent.

Es fehlt der Platz um weiteres aufzuzählen (beispielsweise was die Kindergesundheit betrifft), aber im Gesundheitssystem ist es so wie im Bildungssystem: es ist sehr sehr teuer und wenig effektiv – von wegen weltbestes! Wenn das Politiker nicht endlich ernst nehmen, dann werden sie ausgetauscht werden müssen.

Dieser Artikel wurde im April 2011 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Das gesundheitspolitische Sprachgewirr

Gerne wird behauptet, wir hätten das beste Gesundheitssystem und argumentiert das beispielsweise mit den Erfolgen der Krebsbehandlung.

Abgesehen, dass die meisten Aussagen arbiträr sind, werden dabei Behandlung, Versorgung und Gesundheitssystem vermischt. Grundsätzlich gilt aber, dass die Behandlung eines Patienten nicht automatisch etwas mit seiner Versorgung und noch viel weniger mit dem System zu tun hat. Daher können Behandlungserfolge auch nicht direkt der Versorgung und schon gar nicht dem System zugesprochen werden. Gesundheitssystem, Versorgung und Behandlung sind, wiewohl systemisch miteinander verknüpft, verschiedene Ebenen.

Behandlung ist das, was in der Beziehung zwischen Patient und seinem Arzt (oder Gesundheitsprofessionisten) unmittelbar passiert.

Die beiden treffen sich aber nicht zufällig und grundlos. Hinter ihnen steht eine komplexe Logistik, die ein Treffen erst ermöglicht. Sei es, dass Trivialitäten wie Treffpunkt (Ordination, Spital etc.) und Finanzierung, aber auch komplexe Umstände, wie die Motivation der beiden vorhanden sein müssen. Beim Patienten ist letzteres scheinbar einfach, schließlich ist er krank. Aber auch da gibt es nicht triviale Fragen: Welche Schmerzen, Wege, Wartezeiten ist er bereit auf sich zu nehmen, um zum Treffpunkt zu gelangen? Welches Risiko (z.B.: Verlust der Selbstbestimmung) besteht, wenn er sich in diese, von Informationsasymmetrie geprägte, Beziehung, einlässt? Noch komplexere Fragen findet man beim Arzt. Schließlich wird von der Bezahlung bis zu den Arbeitsbedingungen alles Anreize darstellen, diese Beziehung in die eine oder andere Richtung zu steuern. All diese Fragen und Antworten gehören zur Versorgungsebene.

Und weil diese nicht im luftleeren Raum steht, schwebt darüber das Gesundheitssystem. Hier sollten die Fragen abstrakt sein: Was soll das System erreichen? Wie entwickle ich Ziele und wie messe ich sie? Und: Von wem nehme ich für wen das Geld?

Standortdiskussionen gehören nicht zu Systemfragen und Behandlungsfragen schon gar nicht. Im allgemeinen Sprachgewirr, wird aber Gesundheitssystem, Versorgung und Behandlung synonym verwendet; meist von Akteuren, die ein Eigeninteresse daran haben, dass die Bevölkerung keine Unterscheidung treffen kann. Das ermöglicht politischen Gewinn, da so jede erfolgreiche Behandlung – und das sind ja die meisten – als Erfolg des Systems oder der Versorgung im Allgemeinen und deren politischer Vertreter im Besonderen gewertet werden kann.

Die Grenzen der Ebenen sind übrigens dann klarer, wenn es um negative Erfolge geht. Üblicherweise ist ein Spitalsarzt dann selbst schuld und nicht das Spital und schon gar nicht das Bundesland. Analog im niedergelassenen Bereich, dort wird es nie zur Schuldhaftigkeit der Kassen oder des Gesundheitsministeriums kommen, wenn eine Behandlung erfolglos blieb.

Wer die Reformdiskussion anschaut, kann erkennen, wer es ernst meint und wer nicht. Will ein Akteur zusätzlich auf anderen als der eigenen Ebene bestimmen, dann geht es nur um Macht. Das ist beispielsweise so, wenn Länder sowohl Spitäler, inklusiver deren Abteilungsstrukturen, betreiben als auch (mit fremdem Geld) finanzieren wollen. Bei dieser Kompetenzvermischung zwischen System- und Versorgungsverantwortlichkeit ist prognostiziert, dass Ziele nicht unabhängig der Versorgungsstrukturen erstellt werden, und auch die Ergebnisse nicht objektiv sein werden, sondern dem entsprechen, was der Versorger erreichen will. Und weil da die Politik mitspielt, ist das Erreichte dann „das Beste der Welt“.

Dieser Artikel wurde im März 2011 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Jetzt wird es ernst

Maastricht lehrt den Landesspitälern das fürchten – und weil es keine Gesundheitsreform gibt, werden Spitalsmitarbeiter an den Lehren leiden.

Als die Finanzkrise kam, gab es mahnende Stimmen, die vor massiv schrumpfenden Steuereinnahmen aufgrund der daraus resultierenden Wirtschaftskrise warnten. Spätestens seit 2008 mahnten Stimmen, endlich jene Strukturreformen anzugehen, die seit Jahrzehnten überfällig sind; immer mit dabei, Gesundheitssystem und Spitäler.

Dann war sie da, die Krise. Dass wir Normalsterblichen kaum etwas mitbekommen haben, liegt an den gigantischen Geldmitteln, die zu unserem Wohl (?) und um uns bei Laune zu halten, verteilt wurden. Das Geld kam und kommt über Schulden, aber das interessiert nur Kleingeister.

Den Reigen hat Ex-Finanzminister Wilhelm Molterer eingeleitet, als er den Ländern Schulden statt Überschüsse erlaubte. Und tatsächlich haben diese 2009 drei Milliarden Euro mehr unters Volk gebracht als noch 2008. Das meiste davon ging in Spitäler – vermutlich eine Milliarde in den Betrieb, mindestens eine weitere in Neubauten oder „dringend notwendige“ Modernisierungen. An eine Reform war bei einem solchen Geldsegen gar nicht zu denken. Und die Kleingeister (wozu wohl auch Hauptverbandschef Hans Jörg Schelling gezählt werden muss), die stetig eine solche einforderten, wurden belächelt.

Und so haben sich jene, die sich nicht kümmern, woher Geld kommt, auch nicht im geringsten Gedanken gemacht, was passiert, wenn es nicht mehr kommt – so etwas galt in diesen Kreisen wohl als obszön.

Und dann passierte es. Die Griechen haben uns dermaßen hineingeritten, dass die Euro-Länder (nicht aber unsere Bundesländer) beschlossen haben, der populistischen Schuldenpolitik entgegenzutreten. Die Folge ist, dass die „Maastricht-schonend“ ausgelagerten Spitalsschulden – mindestens drei, vielleicht aber auch zehn Milliarden Euro – nun ins Budget zurückfallen. Damit war der Traum vom ewigen Geldregen vorbei. Das passierte fast ohne Aufschrei, denn vermutlich haben viele Bundesländer die Schreckstarre noch nicht überwunden oder sich in eine neurotische Verweigerung zurückgezogen. Ändert aber nichts! Sie werden demnächst auf dem Trockenen sitzen.

Da aber keine Überlegungen stattgefunden haben, wie man mit einer solchen Situation umgeht, und auch jede Gesundheitsreform untergraben oder unterbunden hat, tritt ein, wovor vor zwei Jahren gewarnt wurde.

Die Personalkosten sind mit 56 Prozent der Gesamtkosten der größte Block. Im Personalabbau sieht man nun (nicht nur in Wien) sein Heil. Da politisch ein solcher über Kündigungen kaum umzusetzen ist, greift man zum „natürlichen“ Abgang. Damit kommt es zu einer paradoxen Situation.

Den größten „natürlichen“ Abgang, der in Spitälern weniger durch Pensionierung als durch Fluktuation gegeben ist, findet man dort, wo die Arbeitsbelastung (insbesondere für Jungärzte, die meist nur auf Zeit angestellt sind, und für das Pflegepersonal) am größten ist. Dort, wo die Arbeit vergleichsweise gemütlich ist, ist die Fluktuation geringer. Der Stellenabbau wird daher genau dort stattfinden, wo der größte Arbeitsdruck herrscht, der dadurch noch größer wird. Das wird die Fluktuation weiter anheizen und es wird immer schwieriger werden, Personal zu finden – ein virtueller Mangel wird entstehen.

Und so beginnen sich die Spiralen schneller zu drehen und am Ende steht dann doch eine Reform. Allerdings eine erzwungene, und solche sind immer schlechter als gut vorbereitete.

Dieser Artikel wurde im Jänner 2011 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.