Der Lockdown und die Impfpflicht

   Das Alles-oder-nichts ist etwas für Hasardeure, aber nicht für Regierungen.

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   Es ist beeindruckend, wie wenig differenziert unsere Regierungen (vom Bund abwärts über Länder und Kammern bis zu Gemeinden) nach so langer Zeit agieren. Wider besseres Wissen setzen sie weiter auf kurzsichtige und populistische Maßnahmen und überlassen das Lernen anderen,

   Wie war das etwa, als die Ampel-Karten eigeführt wurden – dezentral sollten Gemeinden und Bezirke Maßnahmen setzen und voneinander lernen. Geblieben ist davon nichts. Nicht einmal Bundesländer lernen voneinander, wenn man das Burgenland und Oberösterreich anschaut. Klar, lernen könnte man ja nur aus Fehlern, die will aber niemand gemacht haben.

   Und jetzt ein Lockdown für alle und überall, weil Österreich „zu klein“ sei und kein „Fleckerlteppich“ werden solle. Und im Frühjahr kommt die allgemeine Impfpflicht. Keinerlei Gedanken, was man hätte anders machen können oder vielleicht noch könnte, keine Diskussion über Zielgruppen und Anreizmodelle, nein: „Die intensive Aufklärung hat nicht gereicht, jetzt kommt die Pflicht für alle“ – hau drauf, und Schluss!

   Unsere Regierungen haben es nicht geschafft, wenigstens ein paar Gruppen zu differenzieren und zielgruppengerecht zu agieren. In Österreich – und das ist nicht neu, wenn wir an die Masern-Impfdiskussion vor zwei Jahren denken – haben wir relativ wenige Befürworter. Die aktiven, also die, die nicht nur dafür sind, sondern auch aktiv impfen gehen, stellen etwa 60 Prozent. Dafür haben wir viele Gegner, die – dank der absurden eminenzbasierten Medizin, die ohne große Probleme jeden esoterischen Schmarren mit dem Qualitätssiegel „Arztvorbehalt“ heiligt – in ihrer Evidenzleugnung gehätschelt werden. Doch auch wenn wir doppelt so viele wie üblich haben, stellen sie nur 5 bis 6 Prozent.

   Und dann ist da die große Gruppe dazwischen. Diese reicht von „Ich bin eh dafür, hab aber noch keine Zeit gehabt“ über „Mich freut es nicht, mich damit zu beschäftigen, und wenn die anderen gehen, auf mich kommt es nicht an“ bis hin zu „Ich trau dem Ganzen nicht, weil ich dem System misstraue“.

   Diese inhomogene Gruppe erreicht man durch differenzierte und konsequente Aufklärung und Motivation. Aufklären heißt nicht, einfach immer wieder zu sagen: „Impfen ist sicher.“ Wer dem Sager nicht traut, traut auch nicht dem Gesagten! Das verfängt nur bei denen, die eigentlich nur motiviert werden müssen. Aber auch das ist nicht simpel. So kann etwa Geldbelohnung den Zweifel erhöhen – denn wenn „die“ mir was zahlen, damit ich es nehme, dann ist es wohl nicht gut . . . Klar ist aber, dass Strafen am wenigsten bringen. Die führen sicher zum Schulterschluss mit denen, die dem System nicht trauen – und gemeinsam werden sie die Gegner stärken.    Aber so differenziert zu denken und zu handeln, liegt unseren Regierungen nicht. Lockdown und Impfpflicht für alle, weil die Ungeimpften unbelehrbar sind – das reicht. Wie gut das funktioniert, dazu eine kleine Anekdote: In meinem Bekanntenkreis gibt es eine dreiköpfige Familie, die Eltern akademisch gebildet, alle sind gegen alles geimpft – außer gegen Covid. Da sind sie echte Gegner geworden. Eine grandiose Leistung, aus Impfbefürwortern Impfgegner zu machen.

„Wiener Zeitung“ vom 25.11.2021

Assistierter Suizid

   In der wesentlichen gesundheitspolitischen Frage – Lebensqualität – wird prokrastiniert.

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   Das Erkenntnis, dass das Verbot der „Hilfeleistung zum Suizid“ verfassungswidrig war, ist der vorläufige Höhepunkt einer Diskussion, die unsere Politiker seit Jahrzehnten meiden. Zu wenig kann man damit gewinnen, zu viel verlieren.

Die Basis der Vermeidungsstrategie ist die Gretchenfrage, ob Lebensqualität Teil unseres Denkens und Handelns im Gesundheitswesen (das ist mehr als nur das Gesundheitssystem!) sein darf. Bis dato wurde die Frage durch Politiker eindeutig mit „Nein“ beantwortet. Da ein Leben unendlich viel wert ist, ist der einzig gültige Grundsatz die Lebensverlängerung, und die im Grunde um jeden Preis. Nun, im täglichen Leben war und ist das anders.

   Die Vermeidung jeglicher Diskussion über Lebensqualität führte und führt zu gewaltigen Problemen, denn die Lebensqualität eines Menschen kann derart absinken, dass das Leben zur Qual wird. Je früher und wirksamer man Lebensqualität adressiert, desto länger könnte diese Qual hinausgezögert oder sogar vermieden werden. Doch dazu muss man Lebensqualität als Parameter erlauben. Dessen Messung – ja, das ist möglich – stellt stark auf Selbstbestimmung ab. Und weil der Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Suizid“ gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstößt, kommt Lebensqualität plötzlich als wesentlicher Parameter ins Spiel – das irritiert alle.

   Neu ist das alles nicht – neu ist nur, dass die Zahl derer, die (in Friedenszeiten und in Freiheit) jene Phase des Lebens erreichen, in der Lebenslänge gegen Lebensqualität abgewogen wird, seit den 1970ern steigt. International haben Gesundheitswesen darauf mit dem Konzept der Palliativversorgung reagiert. Um die Jahrtausendwende – also rund 20 Jahre, nachdem das Konzept international bereits anerkannt war – stand fest: Wir werden um das Thema nicht herumkommen.

   Nach jahrelangen Streitereien ohne Lösung (wir wissen noch nicht einmal, ob Palliativversorgung zum Gesundheits-, oder zum Sozialsystem gehört – eine wesentliche Verfassungsfrage!) hat man sich 2005 auf ein Konzept geeinigt, aber dieses eben nicht umgesetzt. 2015 wurde, um die Untätigkeit zu kaschieren, die parlamentarische Enquete „Würde am Ende des Lebens“ abgehalten, um am Ende doch wieder nur Lippenbekenntnisse abzugeben. Eine endlose Geschichte, wie das Beispiel eines Hospizes in Salzburg, das 2012 nach zehn Jahren Betrieb wieder geschlossen wurde, zeigt.

   Jetzt hat eben der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass das alles so nicht geht – wenn wir als Gesellschaft Menschen im Sterben alleine lassen, dann dürfen wir ihnen nicht verbieten, zu sterben. Aber weil man dabei als Politiker noch immer nichts gewinnen kann, wird einfach mehr Geld für die Palliativversorgung versprochen – denn „mehr“ löst bekanntlich alle Probleme. Wir kleben also wieder einen Flicken auf den alten Schlauch, um das Loch zu stopfen, und erkennen weiterhin nicht, dass es der Druck im Schlauch ist, der das Loch gerissen hat.

   Die eigentliche Frage – Lebensqualität versus Lebenslänge – wird nicht gelöst. Und damit wird unser Gesundheitswesen weiterhin auf Lebensverlängerung um jeden Preis ausgerichtet bleiben – koste es, was es wolle

„Wiener Zeitung“ vom 04.11.2021 

Viel zu viele Patienten

   Ein System, das strukturorientiert, aber patientenfern ist, führt unweigerlich zu hoher Belastung und niedrigen Gehältern bei mäßigem Erfolg – aber zu glücklichen Politikern.

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   Im Sommer stand an dieser Stelle, dass es zahlenmäßig keinen Ärzte- und Pflegekräftemangel gibt – aber auch, dass das die Politik wenig interessiert. Mehr zu fordern, ist einfach sehr beliebt. Doch was sind die Konsequenzen?

Seit langem wird moniert, dass die Versorgung viel zu spitalslastig ist. Zwar haben uns die Deutschen 2020 überholt, aber der Drittplatzierte in der EU behandelt 30 Prozent weniger Patienten im Spital, gegenüber dem EU-Schnitt sind es 60 Prozent. Umgerechnet in Patienten wären das etwa 750.000 vermeidbare Aufnahmen.

   Wenn wir Patienten im Spital behandeln, benutzen wir – gemessen an den Betriebs- ohne Personalkosten – die teuerste Infrastruktur. Wir geben schon ziemlich viel Geld dafür aus, aber verglichen mit anderen Ländern und in Relation zum Patientenaufkommen auch wieder nicht. Und um das zu erreichen, müssen bei uns die Personalkosten niedrig und die Belastung hoch sein.

Im Kassenbereich ist es das gleiche Spiel: extrem hohe Inanspruchnahme bei relativ geringen Ausgaben – viele, zu viele Patienten pro Arzt. Nur so als Beispiel: Ein Hausarzt in Österreich dürfte – die Datenlage hierzu ist schlecht – im Schnitt und in Relation zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung, im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht verdienen. Aber er sieht viermal so viele Patienten pro Tag wie seine internationalen Kollegen. Massenbetrieb eben, wie die Krankenkassen das vorsehen.

   Über die Wahlärzte wissen wir praktisch gar nichts – die Ausgaben dort werden nicht richtig erfasst, weil so getan wird, als würden diese großteils nur unwichtige Medizin betreiben. Da Ärzte umsatzsteuerbefreit sind und nur die bei den Kassen eingereichten Honorare erfasst werden, würde die Statistik nahelegen, dass die Wahlärzte alle am Hungertuch nagen– warum deren Zahl steigt, ist daher ungewiss.

   Und im Pflegebereich? Wir haben es geschafft, derart stark auf informelle Pflege zu setzen, dass Patienten zuerst ins Bett und dann ins Heim gepflegt werden. Auch hier haben wir viel zu viel stationäre Versorgung und damit wiederum die teuerste Infrastruktur und müssen bei den Personalkosten sparen.

Dazu kommt, dass der durchschnittliche Pflegefall, der professionell versorgt wird, bereits ein schwerer Pflegefall ist. All die modernen Pflegeansätze, die präventiv wirken, kommen zu spät. Und aus der Sicht der einzelnen Pflegekraft ist es psychisch daher unglaublich anstrengend, so viele „hoffnungslose“ Fälle zu sehen. Es ist kein Wunder, dass 85 Prozent der mobilen, und 40 Prozent der stationären Pflegekräfte in Teilzeit arbeiten.

   Am Ende verzeichnen wir, weil die Politiker aller Ebenen es nicht schaffen, eine patienten- statt (pfründe-?)strukturorientierte Reform umzusetzen, eine extrem hohe Inanspruchnahme aller Gesundheitsleistungen, ohne hohe Gesundheit und niedrige Pflegebedürftigkeit zu erreichen – und weil wir dann in teuren Strukturen viele Gesundheitsprofessionisten mit möglichst niedrigen Kosten brauchen, spürt jeder einen Mangel und jammert übers Geld – das Prinzip „Mehr in der öffentlichen Versorgung“ führt so zu belastenden Arbeitsbedingung bei relativ niedrigen Gehältern und zu einer Flucht in die Teilzeit oder in den Wahlarztbereich

„Wiener Zeitung“ vom 01.10.2021

Menschen- und Weltbilder im Krankenkassensystem

  Worum geht es beim Streit um die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung?

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   Die telefonische Krankschreibung war eine jener Prozessinnovationen, die durch die Pandemie umgesetzt werden konnten.

   In vielen Länder ruft man als Arbeitnehmer den Arbeitgeber an und sagt, man sei krank – Punkt. Sollte ein Arbeitgeber meinen, dass jemand ungebührlich „krankfeiert“, kann er einen Arzt vorbeischicken oder den Mitarbeiter rauswerfen – warum also einen Arztbesuch vorschreiben?

   Unsere Form des Krankschreibens (mit persönlichem Ordinationsbesuch) ist international kein sehr weit verbreitetes Modell. Es verbraucht viele Ressourcen, angefangen von den Wegzeiten der Patienten über die Organisation in den Ordinationen bis hin zum ganzen Administrationsaufwand – teuer und nutzlos.

   Da kommt das wohlklingende Argument, wer sich krank fühle, sollte schon einen Arzt sehen. Ernsthaft? Wenn ich ein bisschen Fieber habe, soll ich zum Arzt? Übelkeit – Arzt? Grippaler Infekt – Arzt? Und das sofort? Wir haben ja keine Daten, aber können aus anderen Ländern, wo kein Arztbesuch nötig ist, Analogieschlüsse ziehen – und da zeigt sich halt, dass dort die Menschen nicht kränker sind oder kürzer leben und auch nicht länger im Krankenstand sind. Die meisten Krankschreibungen sind eben durch selbstlimitierende Krankheiten bedingt, die mit ein bisschen Schonung auch ganz ohne Arzt heilen. Die Krankschreibung ohne persönlichen Ordinationsbesuch auf Basis einer telemedizinischen Begutachtung wäre also etwas gewesen, um unsere überlasteten Hausarztordinationen zu entlasten – ganz ohne schädliche Nebenwirkung.

   Allerdings, und da liegt der Haken, wurde sie nicht eingeführt, weil es sinnvoll wäre, sondern um Ansteckungen in Wartezimmern (warum müssen die eigentlich so voll sein?) zu vermeiden – und folgerichtig abgeschafft, sobald die Ansteckungsgefahr gering wurde. Warum? Es sind die Menschenbilder der Entscheidungsträger in den dominierenden Institutionen, die allesamt Monopol-Vertretungsansprüche haben, die im Wesentlichen aus der Zwischenkriegszeit stammen und sich bis heute halten.

   Da geht es um tendenziell „faule Arbeiter“, denen man genau vorschreiben muss, was sie zu tun haben, und noch genauer kontrollieren, ob sie das eh machen (Taylorismus); und um tendenziell „ausbeuterischen Arbeitgeber“, denen man möglichst wenige Freiheiten geben darf, weil sie nichts anderes im Kopf haben, als ihre Arbeitnehmer auszubluten, um das eigene Kapital anzuhäufen (Marxismus); und natürlich um Ärzte, die geldgierig allesamt das „System“ nur ausnutzen wollen, um die eigenen Taschen zu füllen, und dabei den Hals nicht vollkriegen – und das als gerechten Lohn verkaufen (Universalismus).   

Diese Weltbilder schwingen bei jeder Entscheidung im Kassensystem mit. Deshalb sitzen alle einander misstrauisch gegenüber und verhandeln, aufbauend auf den Traditionen, niemals um Prozessinnovationen. So haben sie es geschafft, dass wir in Europa so ziemlich die meisten Arztkontakte, Spitalsaufenthalte und – als Folge der Unvernunft – Pflegefälle haben. Lieber alles so lassen, wie es ist, als dass der andere einen Vorteil hat.

„Wiener Zeitung“ vom 26.08.2021    

Ärzte und Pflegekräftemangel oder das Prinzip „mehr“

   Die ewige Forderung nach mehr Personal ist ein Teufelskreis – aber für Politiker immer ein Gewinn.

   Ein Blick ins Zahlenmaterial, das immerhin von öffentlichen Stellen freigegeben wird, zeigt, dass wir in der EU die meisten Ärzte pro Kopf haben (nur die gezählt, die mit Patienten arbeiten). Das Gleiche gilt für Pflegekräfte. Auch hier haben wir, mit deutlichem Abstand, die meisten fertig ausgebildeten und werktätigen Personen. Dass die Zahlen, die hier herangezogen werden, nicht leicht zu finden sind und aus unterschiedlichen, aber immer öffentlichen Statistiken zusammengefasst werden müssen, ist wohl ein erster Hinweis darauf, dass es keinen Personalmangel gibt, sondern einen erheblichen Mangel an politischem Willen.

   Wer sich jedenfalls einmal durchs Zahlendickicht gearbeitet hat, muss notwendigerweise feststellen, dass die Zahlen nicht darauf hindeuten, dass wir mehr Personal ausbilden müssen – im Gegenteil. Doch so eine Recherche ist anstrengend und führt zu Schlüssen, die so gar nicht zum Narrativ der Politiker passen. Damit hat jeder, der sich da einarbeitet, Feinde – und zwar nicht nur in der politischen Elite. Denn auch eine breite Masse der in „Mangelberufen“ Arbeitenden „spürt“ diesen Mangel und fühlt sich als Opfer.

   Und wenn der Ärztekammerpräsident meint, vier von zehn Studierenden würden nach dem Abschluss ins Ausland gehen, fragt halt keiner nach, ob das stimmt. Wenn er gleichzeitig sagt, dass wir 1.500 Neuzugänge bräuchten, um den Status quo zu erhalten, und daher die vorhandenen 1.750 Studienplätze zu einem Nachwuchsmangel führen müssten, bleibt das unwidersprochen. Obwohl nichts davon faktisch ist – im Gegenteil, wie der Blick in die „Ärztestatistik für Österreich“ zeigt: Der Neuzustrom liegt bei etwa 1.700 Ärzten. Pikanterweise wurden diese Aussagen anlässlich der Präsentation genau dieser Statistik getätigt – und somit gleich einmal festgelegt, wie diese zu lesen ist.

   Auch in der Pflege interessiert keinen, was die Zahlen sagen. Die Anekdoten über den Mangel sind vielfältig, und jeder weiß mittlerweile, dass wir mindestens 75.000 zusätzliche Kräfte brauchen. Und weil das so ist, müssen wir auf Teufel-komm-raus mehr ausbilden. Doch mit etwa 16 Pflegekräften pro 1.000 Einwohner (nicht Betreuungskräften, sondern ausgebildeten Pflegekräften) haben wir doppelt so viele wie der EU-Durchschnitt und einen Vorsprung auf das zweitplatzierte Deutschland von 20 Prozent. Wenn wir zu den aktuell etwa 150.000 Pflegkräften zusätzlich 75.000 in Beschäftigung nehmen, werden wir halt dreimal so viele haben wie der EU-Durchschnitt. Doch welcher Journalist nimmt schon den Jahresbericht „Gesundheitsberuferegister 2020“ als Quelle, wenn doch vom Minister bis zum ÖGB-Funktionär alle von einem Mangel sprechen, und „mehr“ fordern?    Und so werden wir eben „mehr“ ausbilden. Das „mehr“-Angebot wird zur Folge haben, dass sich die Arbeitsbedingungen weiter verschlechtern, was dazu führen wird, dass Ärzte noch stärker in den Wahlarztbereich und Pflegekräfte noch mehr in die Teilzeit verschwinden, womit wieder ein „Mangel“ entsteht, der die Politik zum Handeln zwingt und mehr Ausbildungsstellen geschaffen werden. Und das geht halt so weiter und so weiter.

„Wiener Zeitung“ vom 29.07.2021 

Die Delta-Welle und oberflächliche Pandemiedebatten

   Die neue Variante des Coronavirus wird sich ausbreiten, die Inzidenz wird steigen. Doch was heißt das? Die vertiefende Diskussion dazu bleibt bisher aus.

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   Erstaunlich: Ein Kanzler fliegt nach Berlin, um sich bei der größten Pandemie-Eminenz, dem Virologen – aber nicht Epidemiologen – Christian Drosten, persönlich zu informieren, wie es weitergeht. Nach dem Gespräch mit dem berufenen Mund, die gute Nachricht: Covid-Impfungen wirken auch gegen die neue Variante Delta. So was kann man erst sicher wissen, wenn man mit dem berufenen Mund in Berlin gesprochen hat, weil es dafür weder in Österreich berufene Münder noch in der wissenschaftlichen Literatur glaubwürdige Aussagen gibt. Das Ganze erinnert ein bisschen an eine Reise zum Orakel nach Delphi.

   Weiters dürfen wir erfahren, dass es Unsinn sei, dass man aus Fehlern des vergangenen Sommers lernen könne. Die Pandemie komme in Wellen und sei extrem saisonal und regional. Heißt: Der vergangene Sommer war fehlerlos, der Herbst schicksalhaft. Und nach all dem kommt dann eine merkwürdige Beschwerde des Kanzlers: Die Debatte über die Corona-Entwicklung werde in Österreich viel zu oberflächlich geführt.

   Das ist verwirrend, immerhin ist es das Pandemiemanagement der Bundesregierung, das eine öffentliche Diskussion moderieren sollte. Und wenn ich an die vielen Millionen Euro denke, die in die „öffentliche Kommunikation“ fließen, sollte es eine solche nicht geben. Aber vielleicht hat man diese Kommunikationsmillionen in die falschen, weil unglaubwürdigen Medien gesteckt?

   Klar ist: Delta ist ansteckender als Alpha (vormals: „britische Mutante“) und noch viel mehr, als der Wildtyp vom Anfang. Um Herdenimmunität aufzubauen, müssten wir jetzt 85 Prozent der gesamten Bevölkerung (alle, ohne Altersgrenzen und ungeachtet der Impfbereitschaft) impfen. Praktisch ist das unmöglich. Damit wäre eine Zero-Covid-Diskussion endgültig obsolet. Delta wird sich ausbreiten, die Inzidenz wird steigen. Doch was heißt das? Werden andere Risikogruppen als bisher betroffen sein? Und sind die alle geimpft? Das wären Fragen, deren Beantwortung eine vertiefende Diskussion ermöglichen würde.

   Doch niemals wurde klar kommuniziert, was die Regierung will und womit sie meint, das zu erreichen. Wild schwankt man zwischen „Schützen wir unser Gesundheitssystem“ und „Zero-Covid“. Und je nach Meinungsumfrage wurden diese oder jene Maßnahmen gesetzt. Daten zu sammeln und auszuwerten, um herauszufinden, ob man das Ziel erreicht hat, war mangels Ziels unnötig. Letzthin hat der oberste Simulationsforscher Niki Popper mitgeteilt, er könne in seinem Modell die Maskenpflicht nicht berücksichtigen – heißt: Wo oder ob überhaupt Masken etwas bringen, weiß keiner. Sie wurden willkürlich verordnet.    Die Infektionszahlen bei Schulkindern sinken analog zur Durchimpfungsrate der Lehrer. Kinder wurden also offenbar von Lehrern angesteckt, stecken sich aber kaum gegenseitig an, was wiederum heißt, dass der oben erwähnte Virologe mit seiner „Kinder sind am epidemiologischen Geschehen wesentlicher Treiber“- Hypothese falsch lag und liegt. Aber er ist der berufene Mund, der sagt, wie es weitergeht. Die wichtigen Fragen bleiben im Raum stehen – unbeantwortet. Und weil es praktisch keine evidenzbasierten, transparenten Entscheidungen gab und geben wird, kann eine Vertiefung der Diskussion nicht stattfinden. Also warten alle ängstlich auf die Reaktion der Regierung.

„Wiener Zeitung“ vom 24.06.2021 

Das Mega-Projekt „einheitlicher Leistungskatalog“

   Manches dauert in Österreich, bis es kommt. Aber es kommt. Vielleicht. Oder eher nicht.

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   In all dem Trubel um Korruption und den assoziierten Ablenkungsmanövern ist sie beliebt: die Pressekonferenz, in der etwas angekündigt, ja eine ausgedruckte Variante des Angekündigten sogar in die Höhe gehalten wird, von dem dann aber niemand Genaueres weiß. Und das macht auch die Ärztekammer, die quasi aus dem Nichts heraus die Beendigung eines „Mega-Projektes“ verkündet . Auf 150 Seiten soll die jahrelange Arbeit von 200 Experten zusammengefasst worden sein. Der Inhalt: der seit langem in der Diskussion stehende „einheitliche Leistungskatalog“ – allerdings nur für Kassenärzte.

   Um das einzuordnen, muss man gesundheitspolitischer Archäologe sein.

   Es liegt jetzt ein Vierteljahrhundert zurück, dass wir der EU beigetreten sind. Damals musste, zwecks Verschleierung der Spitalsfinanzen, die Finanzierung völlig reformiert werden. Im Rahmen dieser Reform, der Einführung der „Leistungsorientierten Krankenanstalten-Finanzierung“ (LKF), wurde auch die Ambulanzfinanzierung reformiert. Ohne auf Details einzugehen, war schon damals klar, dass man, will man kein (noch größeres) Problem mit der ambulanten Versorgung erzeugen, alle (!) Leistungserbringer gemeinsam betrachten und steuern muss. Wenn nicht, wird dieser Bereich (noch stärker) in Subsysteme zerfallen, die sich gegenseitig abschotten. Deshalb wurde bereits 1996 festgelegt: „Im ambulanten Bereich ist spätestens ab 1. Juli 2001 in Modellversuchen eine geeignete Diagnosen- und Leistungsdokumentation zu erproben. (…) für die Leistungsdokumentation ist ein praxisorientierter, leicht administrierbarer Leistungskatalog anzuwenden.“

   Passiert ist das aber alles nicht – bis heute. Spannend ist, dass es so um 2003 ein Projekt auf Bundesebene gab, das diesen Katalog endlich entwerfen sollte, weil Ärztekammern und Spitalsträger nicht in die Gänge kamen. Das wurde natürlich boykottiert. Und um das eigene Subsystem zu erhalten – also die hoheitliche Verhandlung über Leistungen und Honorare –, hat das höchste Gremium der Ärztekammer, der Ärztekammertag, im Jahr 2005 (oder war es 2004?) beschlossen, die Entwicklung dieses Kataloges an sich zu ziehen. Auf diese 16 oder 17 Jahre muss sich also die Aussage des jahrelangen „Mega-Projekts“ beziehen. Man stelle sich vor, was für Leistungen das sein müssen, für die man eineinhalb Jahrzehnte braucht, um sie zu definieren. Gewaltige – und sicher topmodern. Immerhin ist der medizinische Fortschritt ja nur gering (Achtung, Sarkasmus!).   

Realiter ist es ohnehin anders. Denn der 150 Seiten dicke Katalog ist, wie man hört, eine Überschriftensammlung auf Basis der Honorarordnung der Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau. Dieser BVA-Katalog war immer schon der ausführlichste und der mit den höchsten Honoraren. Praktikabel ist er genauso wenig wie alle anderen. Er ist der Wunschtraum der Ärztekammerfunktionäre, die sich nächstes Jahr Wahlen stellen und so in Position bringen. Denn wie nicht anders zu erwarten, haben bereits alle Landesärztekammern in der ÖGK gemeldet, dass sie eigenständig verhandeln wollen. Der „einheitliche Katalog“ ist also so weit weg wie eh und je – und wird niemals kommen.

„Wiener Zeitung“ vom 27.05.2021 

Ganz persönliche Corona-Anmerkungen

   Seit einem Jahr macht die regierende Politik alles richtig (Achtung, Sarkasmusfalle).

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   Ich gebe es unumwunden zu: Seit mehreren Wochen kümmere ich mich nicht mehr darum, über Corona informiert zu sein. Anfangs war ich noch ambitioniert und habe wie ein Verrückter versucht, Studien zu lesen – im Original. Ich dachte, es sei wichtig, seine Meinung nicht gefiltert oder per Podcast vorgetragen zu übernehmen. Ich bin halt so. Mein Berufsleben lang habe ich Studien gelesen, bevor ich eine Meinung vertrat. Wo es keine Evidenz gab, war ich vorsichtig und niemals apodiktisch. Gut, diese Zeit war beim Thema Corona schnell vorbei, spätestens im Sommer 2020.

   Ab dann war ich hauptsächlich Medienkonsument. Nicht dass ich mich nicht gewundert hätte über so manche Artikel und Aussagen regierender Politiker (aller Ebenen – von Kammern bis zum Bund), kritisch nachdenken wollte ich nicht mehr. Im News Cycle zählt nur das Kurzzeitgedächtnis. Ankündigungs- und Symbolpolitik reichen und dominieren die Meinungsbildung. Warum dagegenstellen? Und nun schaue ich mir nur hin und wieder ein Dash- board an. Ursprünglich das vom ORF, dann bin ich zum Statistiker Erich Neuwirth gewechselt. Der hat mich aber verärgert, weil er, plötzlich berühmt, zum Epidemiologen wurde, was er aber eben nicht war. Seither schaue ich nur noch bei Paul Kleinrath (www.covid2019.at ) nach, der rechnet auch die Reproduktionszahl R(eff) aus. Und selbst das interessiert mich seit einiger Zeit nur noch peripher.

   Aber warum eigentlich? Naja, die Geschichte rund um Vorarlberg ist illustrierend, warum es sinnlos ist, mitzudenken. Beginnend damit, dass dort eine relativ niedrige Neuinfektionsrate bestand. Keiner wollte mir erklären, warum das so ist. Verhalten die sich anders, was können wir lernen, etc.? Es wurde erklärt, das hätte was mit dem Arlberg und den Nachbarstaaten zu tun. Die haben Deutschland und die Schweiz, wir anderen halt Tschechien, Ungarn und so. Die Erklärung hatte allgemeine Gültigkeit erlangt. Darüber weiter nachzudenken, was hätte es gebracht?

   Dann wurde in Vorarlberg die „Modellregion“ ausgerufen – und es war klar, dass das ein Riesenerfolg wird – wie alles, was regierende Politiker ankündigen in einem Riesenerfolg mündet.

   Nun, die Infektionsraten haben sich vervierfacht. Was aber trotzdem ein Erfolg ist, weil man es ja wissenschaftlich begleitet. Gut, ob es so eine Begleitforschung gibt, ist nicht ganz geklärt – manche sagen ja, andere nein – unerheblich. Wie sagte einst der heute einstige Impfkoordinator Clemens Auer? „Die Damen und Herren Wissenschaftler sollen sich nicht aufregen, die Daten sind alle da, und die, die sie brauchen, haben sie auch.“ Und ganz ehrlich, das Ergebnis stand eh fest, da braucht man keine Zahlen, Daten und Fakten. Also ob jetzt die Infektionen mehr wurden oder nur die Dunkelziffer kleiner – das werden wir schon erklärt bekommen von berufenem Munde. Auf das warte ich und glaube es dann einfach.

   Es lebt sich so viel einfacher. Die dadurch gewonnene Zeit stecke ich in meine Allgemeinbildung. Ich kenne mich jetzt ziemlich gut aus mit Zombies, der Abgrenzung zwischen Juden, Judenchristen und Christen, Wikingern, den griechischen Mythen, den theologischen Problemen rund um Jesus im Koran und vielem mehr.

„Wiener Zeitung“ vom 29.04.2021   

Nach fachlicher Einschätzung – genug

   Warum wir bei den Corona-Impfungen so weit nachhinken.

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   27. Juli 2020: Die Welt fiebert den Corona-Impfstoffen entgegen, wobei keiner weiß, welcher als Erster in die Phase III eintreten wird. Nur vier Tage später steht BioNTech/Pfizer fest – übrigens Monate, nachdem ein gewisser Bill Gates meinte, es wäre sinnvoll, für alle aussichtsreichsten Impfstoffkandidaten Fabriken zu bauen, damit die Produktion starten kann, sobald einer zugelassen wird, da sinnlos errichtete Fabriken allemal billiger kämen als jede Pandemieverlängerung.

   Am 27. Juli 2020 mailt der oberste ministerielle „Fachexperte“ Clemens Martin Auer mit anderen Ministerien, wo er erst einmal Nachhilfe geben muss: „Noch was dazu. HBK (Herr Bundeskanzler, Anm.) schreibt in seinem Brief von einer Gleichsetzung der Dosen mit der Bevölkerung = 8, irgendwas Dosen. Die meisten Impfstoffe brauchen aber 2 Dosen. Was gilt jetzt? Will er 8 Mio Menschen impfen? Dann brauch ma 16 Mio Dosen. In deinem Brief an ihn hab ich von 8 Mio Regiments gesprochen = also Impfobjekte.“ Ganz absurd wird es, als über Kosten sinniert wird: „Nein. Wir reden nicht von 50-100 Millionen Euro. Sondern jenseits von 100 Millionen Euro. Bei den Covid-Impfstoffen denke ich alles zusammen (für Impfstoffe, Material, Honorare etc.) von ca. 250 Millionen Euro, unter der Maßgabe, dass wir 8 Millionen Menschen impfen. Habe ich mir heute Nachmittag so zusammengerechnet / geschätzt.“

   Impfstoff und Impfen werden also untrennbar zusammengefasst, niemand weiß genau, worüber geredet wird, aber der oberste ministerielle „Fachexperte“ geht pro Stich von 15 Euro all inclusive aus. Was dann genau budgetiert wird, bleibt unklar – bis heute. Aktuell meint das Gesundheitsministerium, die damaligen „bis zu“ 200 Millionen Euro hätten ausgereicht – nach fachlicher Einschätzung (von wem?).

   Rechnen wir nach: Der Bund muss vier Sechstel der Kosten übernehmen, Länder und Kassen je ein Sechstel. So landen wir bei „fachlich eingeschätzten“ 300 Millionen Euro. Allein die Kosten der erwähnten 16 Millionen Stiche würden, angesichts der damaligen Impfhonorare von etwa 20 Euro pro Stich, den Rahmen sprengen. Interessant wäre es zu wissen, was für das Verimpfen kalkuliert wurde. Ach ja, im Jänner 2021 hat man sich mit der Ärztekammer auf 25 Euro pro Stich geeinigt. Es wurde also nicht billiger. Und der Impfstoff selbst hätte de facto gar nichts kosten dürfen. Eine Überbestellung war somit ausgeschlossen. Die Idee, das wirtschaftliche Risiko der Unternehmen zu minimieren, damit die Produktion so früh wie möglich beginnen kann, wurde nicht kalkuliert. Denn das hätte bedeutet, 16 Millionen Dosen bei jedem der damals vier potenziellen Hersteller vorzubestellen. Optimistisch wäre es gewesen, pro Dosis (also pro Stich) mindestens 10 Euro zu budgetieren (Israel zahlt 44 Euro) – das wäre dann eine „bis zu“-Budgetierung nur für die Impfstoffe von weiteren mindestens 650 Millionen Euro gewesen. Jede „bis zu“-Budgetierung unter einer Milliarde Euro wäre damit unfachlicher Blödsinn – das war alles schon im Sommer 2020 bekannt.    Und was hat es für Folgen, wenn eines der reichsten Länder der EU bei den Verhandlungen mit derartigen Kalkulationen auftritt? Die EU-Kommission wird zum Sparmeister. Und genau diese Pfennigfuchserei führt eben dazu, dass die EU beim Impfen weit nachhinkt.

„Wiener Zeitung“ vom 01.04.2021 

Die Parteipolitik in den Krankenkassen

   Ein Zahlenwirrwarr, Merkwürdigkeiten in der Pandemie und ein Vertrauensverlust bei den Versicherten.

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   Im Frühjahr 2020 warnte Andreas Huss, ein hoher Krankenkassenfunktionär der roten Reichshälfte, noch vor bis zu einer Milliarde Euro Defizit. Geworden sind es, ohne die 60 Millionen Euro, die der Bund extra zuschoss, 71 Millionen Euro. Nun, diese Gebarungsvorschau-Nabelschau ist nichts Neues und eigentlich völlig nutzlos. Denn so eine Darstellung in absoluten Zahlen ist (milde ausgedrückt) irreführend. Die ÖGK – um die es hier hauptsächlich geht – hat eine Bilanzsumme von 15 Milliarden Euro – 1 Prozent sind dann schon 150 Millionen Euro –, womit ein Überschuss oder ein Defizit bis zu dieser Höhe schon eine ziemlich genaue Prognose ist. Allerdings wäre eben eine Defizitprognose von 7 Prozent (also die oben genannte Milliarde) schon etwas, wo man genauer hinschauen sollte, bevor man sie in den Raum stellt. Und noch genauer, wenn sie nicht eintritt.

   Aber darum ging es wohl wirklich nicht. Es war natürlich Parteipolitik – der Defizit-Warner hat sich mit der türkisen Reform, die im Wesentlichen keine Prozesse bereinigt (also eher nur Türschilder ausgetauscht), sehr wohl aber die Zahl der roten Funktionäre – und nur die – dramatisch und völlig unnötig reduziert hat, nie abfinden können. Er wünscht sich ein krachendes Scheitern. Die moralische Vereinbarkeit einer solchen persönlichen und parteipolitischen Befindlichkeit mit dem Amt in der Selbstverwaltung ist fraglich – rechtlich ist das leider in Ordnung.

   So weit also nichts Neues. Was das Jahr 2020 aber so besonders macht, ist die Pandemie. Und da wird es doch etwas gruselig. Je nachdem, wer gerade was sagt, haben die Kassen auf der Einnahmenseite wenig verloren. Laut Peter Lehner , einem hohen Kassenfunktionär der türkisen Reichshälfte, sind die Einnahmen sogar um etwa 2 Prozent gestiegen – und das bei einem Rückgang des BIP um 7 Prozent.

   Zurückzuführen ist dieser „Einnahmenerfolg“ auf steuerfinanzierte Maßnahmen wie etwa die Kurzarbeit. Womit klar ist, dass die selbstverwalteten Kassen eigentlich steuerfinanziert sind – was so nicht vorgesehen wäre.

   Und ausgabenseitig? Ja, da ist ebenfalls ein „Erfolg“ zu verbuchen. Denn die Ausgaben sind hinter den Erwartungen geblieben – weil die Menschen seltener zum Kostentreiber Arzt gegangen sind. Und was heißt das? Sind wirklich viele Arztbesuche vermeidbar? Wenn ja, sollten wir daraus nicht lernen und endlich die Kassenmedizin aus dem Minuten- und Groscherl-Geschäft herauslösen und Zeit beim Arzt besser honorieren? Wenn nein, haben wir da jetzt eine gewaltige Verschlechterung der Volksgesundheit, die wir wegen unserer miserablen Datenlage nicht erforschen können?   

Auf so miesepetrige Fragen gibt es keine Antworten, denn es gilt doch, Erfolge zu feiern oder zu missgönnen – doch, das hat ebenfalls seine Wirkung. Je mehr sich die Funktionäre im gegenseitigen parteipolitischen Hickhack ergehen, desto irritierter sind die Zwangsversicherten. Und obwohl das Gesundheitssystem eigentlich gut gehalten hat, ist in der Pandemie deren Vertrauen gesunken – sehr zur Freude der Privatkassen , denn die sind tatsächlich Pandemiegewinner

„Wiener Zeitung“ vom 25.02.2021