Kritik wird einfach abgeblockt

   Die Gräben im Gesundheitssystem sind unüberbrückbar.

   Seit 15 Jahren missioniere ich in Österreich. Seit gefühlt tausenden Jahren predige ich vor allem zwei Dinge:

   Beendet die Sprachverwirrung!

   Seid selbstkritisch.

   Recht viele Anhänger konnte ich nicht gewinnen, vor allem nicht bei den Entscheidungsträgern innerhalb der vielen Organisationen, die alle als Vetomächte auf- und Klientelinteressen ver-treten.

Deswegen soll ich mich eigentlich nicht ärgern, wenn ich wieder einmal so etwas lesen muss: „Wir schaffen es einfach nicht, unser Versorgungssystem als Ganzes zu denken. Wir haben im niedergelassenen Bereich eine ineffiziente Versorgung, folglich landen viel zu viele Fälle unnötigerweise im Spital“, erklärte jüngst ein Public- Health-Experte.

Die Ärztekammer reagierte so: „Wir weisen Ihre pauschale Behauptung, dass die Versorgung im niedergelassenen Bereich ineffizient wäre, auf das Schärfste zurück; diese Aussage zieht die niedergelassene Ärzteschaft in Misskredit. Gerade die niedergelassenen Ärzt:innen versorgen sehr effizient, jedoch gibt es ineffiziente Versorgungsstrukturen, welche systembedingt sind und dringend reformiert werden müssen. Nur durch den täglichen persönlichen Einsatz der niedergelassenen Ärzteschaft mit ihren Ordinationsteams wird verhindert, dass die Spitäler nicht noch mehr aus allen Nähten platzen.“

   Die Aussage, dass der niedergelassene Bereich ineffizient versorgt, ist nun einmal evidenzbasiert und sagt nichts über die Arbeit der niedergelassenen Ärzte aus. Effektive Versorgung bedeutet, „den richtigen Patienten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle“ einer Behandlung zuzuführen. Die Arbeit des Arztes ist die Behandlung. Wenn die Versorgung als wenig effektiv bezeichnet wird, dann heißt das nur, dass – gemessen an den dafür üblichen Parametern (allgemeine und krankheitsspezifische Spitalshäufigkeit, die europaweit spitze ist) – die Patienten zu selten am richtigen Ort behandelt werden. Und weil wir viele niedergelassene Ärzte haben (die Dichte aller niedergelassenen Ärzte ist, bei Berücksichtigung aller Schwierigkeiten des Vergleichs, europaweit ebenfalls spitze), ist der Bereich eben ineffizient – daran kann man nicht rütteln. Egal, wie effizient die einzelnen Ärzte auch behandeln mögen.

Wenn man sich jedoch der Begriffsverwirrung hingibt und Behandlung mit Versorgung synonym verwendet, wird aus einer richtigen Analyse plötzlich ein persönlicher Vorwurf. Und statt dieser Begriffsverwirrung Einhalt zu gebieten, kommt der Reflex der Ärztekammer, die sich pauschal schützend vor die Ärzte stellt.

   Es mag sein, dass die Ärzte effizient behandeln – darüber haben wir keine gesicherte Information, weil die Ärztekammer seit Jahrzehnten jegliche vergleichbare Dokumentation der Leistung der Ärzte ablehnt, etwa die Codierung der Krankheiten der behandelten Patienten nach einem einheitlichen Standard oder die Bereinigung der Leistungskataloge nach sinnvollen Grundsätzen. Damit ist die Behauptung der „effizienten Behandlung“ einfach nur eine Behauptung – und ändert nichts daran, dass die Versorgung nachweislich schlecht ist.

Doch wie soll sich etwas ändern, wenn Kritik, dass wir es nicht schaffen, das „Versorgungssystem als Ganzes“ zu betrachten, sofort aufs Schärfste zurückgewiesen wird?

„Wiener Zeitung“ vom 29.09.2022 

Wow! Sie bewegt sich doch

Am erstaunlichsten in der Gesundheitsreformdebatte ist, dass sie nun wirklich ganz oben von Selbstkritikfähigkeit getragen scheint – dass ich das erleben darf.

Kaum wer wird ihn kennen, Rudy, den gigantischen Suchomimus aus dem Zeichentrickfilm „.Ice Age 3“. Er ist der Leibfeind von Bug, dem Wiesel (fragen Sie nicht, warum Säuger und Dinosaurier zeitgleich vorkommen können), der trotz seiner relativen Winzigkeit das Ziel verfolgt, Rudy zur Strecke zu bringen. Gegen Ende wird Rudy von jemand anderem in eine Schlucht gestürzt, und Bug starrt ihm entgeistert nach. Was soll er denn jetzt tun?

So ähnlich geht es mir nach der letzten Woche.

Als ich vor zehn Jahren begann, das Gesundheitssystem nach wissenschaftlichen Kriterien zu durchleuchten und die Schwächen (unzureichende Versorgung im niedergelassenen Bereich, zu viele Spitäler, die wegen politischem Kalkül bestehen, fehlende Abstimmung zwischen Pflege, Reha und Akutversorgung, unpraktikabler Kompetenzdschungel etc.) analysierte, gab es außer einer Hand voll Experten niemand „Wichtigen“, der sie sehen wollte.

Vor acht Jahren, als ich mich „innerhalb“ bewegte, wurden die Verweigerer scheinbar mehr, aber es fanden sich zunehmend Spitalsärzte – vornehmlich in niedrigen Positionen –, Wahlärzte und auch einige Kassenärzte, die meine Kritik teilten.

Vor sechs Jahren, mit den Arbeiten zur Gesundheitsreform 2005, wurden die Zweifler immer höherrangig. Aber auch die Gesundbeter wurden immer kecker. Beinah amüsiert erinnere ich mich an die „politisch korrekte“ Aussage anlässlich einer Publikation aus Großbritannien, wonach es dort Tote wegen Spitalsinfektionen geben soll – bei uns gäbe es so was nämlich nicht!

Vor drei Jahren, ich hatte gerade meinen Job in Niederösterreich verloren, und zwar vollkommen unabhängig von der Veröffentlichung meines systemkritischen Buches, waren die Skeptiker bereits in die Primararztebene und die der „niedrigen“ Chargen der Ärztekammer vorgedrungen. Die höhere Politik allerdings hatte alle möglichen Superlative erfunden. Da denke ich nicht nur an BM a.D. Andrea Kdolsky, die wenige Monate nach Antritt aus dem „guten“, das „weltbeste“ Gesundheitssystem gemacht (herbeigeredet) hat – etwas, das sie heute bereut, aber wohl das nachhaltigste ihrer Regierungszeit ist.

Mit Hans Jörg Schelling ist vor zwei Jahren der erste Kritiker in höchste Ämter aufgestiegen. Hat es kurz danach ausgesehen, als ob er seine Kritikfähigkeit verlöre, meldete er sich mit „dem Selbstmord mit Anlauf“ (gemeint war das Gesundheitssystem, das ohne Reformen sehenden Auges an die Wand fährt) Anfang 2010 drastisch zurück.

Anfang November (genaugenommen bereits im August) kam Gesundheitsminister Alois Stöger mit dem Vorschlag, die Länder zu entmachten, weil es einfach einen zu krassen Reformstau gibt. Nach anfänglicher Kopflosigkeit kristallisierte sich eine parteipolitische Linie heraus. Die Schwarzen sind dagegen, die Roten dafür.

Als nun diese Woche der „Masterplan Gesundheit“ des Hauptverbandes, ein Stück Strategiearbeit, dem Anerkennung gebührt, das Licht der Welt erblickte, bröckelte sogar die schwarze Front und ein niederösterreichischer Landesrat sprach mit – für seine Verhältnisse – kreideweicher Stimme.

Die Selbstkritik ist ganz oben angekommen, auch wenn sie sich jetzt noch hinter einem unwürdigen Tauschgeschäft (Lehrer gegen Spitäler) versteckt.

Was soll ich tun, wenn wirklich ernsthafte und vor allem richtige Reformbewegung eintritt? Aber andererseits, auch in „Ice Age 3“ meldet sich Rudy unerwartet wieder, und Bug nimmt den Kampf erneut auf.

Dieser Artikel wurde im November 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.