Enttäuschte Hoffnungen

Die aktuelle Diskussion über teure aber kaum nützliche Therapien ekelt mich an. Sie ist unerträglich scheinheilig und verlogen – von allen Seiten.

1994 starb meine Mutter an den Folgen eines Melanoms, dem schwarzen Hautkrebs. Nach der operativen Entfernung dieses kleinen schwarzen Punktes auf ihrem Arm, war sie sieben Jahre beschwerdefrei und galt als geheilt. Doch dann tauchten Metastasen auf, in Leber und Bauchraum. Sie erhielt neuerlich Chemotherapie, und wirklich, die Metastasen wurden kleiner.

Irgendwann begann ihr rechtes Bein zu zucken. Innerhalb weniger Tage war sie halbseitig gelähmt. Mehrere Hirnmetastasen hatten sich gebildet – die man nun in Graz mit dem Gamma-Knife entfernen wollte.

Tatsächlich erholte sich meine Mutter postoperativ und die Lähmungen gingen zurück. Nach Wochen der Rehabilitation konnte sie sogar wieder selbst gehen. Einen Tag lang, dann begann das linke Bein zu zucken.

Die nächsten und letzten Monate fiel meine Mutter in eine tiefe Depression. Sie war auf der linken Seite komplett gelähmt und musste gewickelt werden. Ich sah damals meine Mutter das erste Mal nackt. Regelmäßig erhielt sie Einläufe, weil Morphium und fehlende Bewegung ihre Verdauung lahm legte.

Während all dieser Zeit schaute sie mir kein einziges Mal mehr in die Augen.

Unsere Familie hat den höchsten Preis bezahlt, den man bezahlen konnte – mit enttäuschten Hoffnungen eines Todgeweihten.

Warum ist das passiert, habe ich mich später oft gefragt. Warum die neuerliche Chemo, warum diese Hirnoperationen?

Sind wirklich die Hersteller von Medizingeräten und Medikamenten schuld, dass so viele falsche Hoffnungen gesät werden? Das zumindest könnte man meinen, wenn man die Diskussion über teure aber kaum nützliche Therapien verfolgt.

Machen wir es uns damit nicht zu leicht? Sind wir nicht selbst schuld an diesem Irrsinn. Wir alle wollen doch, dass alles getan wird, um länger zu leben. Wir fragen nie nach dem Preis dafür.

Wie oft werden in sterbenskranke Krebspatienten die teuersten Medikamente gestopft, ohne echte Chance auf Heilung? Ist denn wirklich alles Machbare auch ein Muss? Verweigern wir nicht schlicht die Diskussion über den Tod, und ziehen uns aus Bequemlichkeit und Feigheit auf den Standpunkt zurück, dass alles, was machbar ist, gemacht werden muss?

Natürlich hat die Politik Mitschuld – statt die Diskussion über den Nutzen von Therapien zu führen, zieht sie sich darauf zurück, allen alles auf allerhöchstem Niveau zu versprechen. Aber sind es nicht wir, die wir sie dann für diesen Populismus mit Wahlsiegen belohnen?

Auch die Ärzte tragen Schuld, weil sie in diesem Klima der falschen Hoffnungen dem Patienten selten seine realen Chancen darstellen. Wenn eine winzigste Chance existiert, dann wird diese aufgeblasen als ob wirklich Heilungschancen bestünden.

Auch die Industrie ist nicht schuldlos – aber von allen ist sie wohl die unschuldigste. Solange wir der Überzeugung sind, dass Gesundheit unendlich viel Wert ist, solang wir bereit sind, das Leben um jeden Preis zu verlängern, darf es nicht wundern, dass uns jemand dazu ein Angebot macht. Solange wir uns der ethisch schwierigen Frage entziehen, wann genug ist, solange werden wir Medikamente und Geräte kaufen, die fähig sind zu horrenden Preisen – und da meine ich gar nicht nur Geld, sondern vor allem die Verzweiflung nach enttäuschter Hoffnung – ein wenig mehr Zeit herauszuschinden.

Ich bin schuld, dass meine Mutter so leiden musste, ich habe mich nicht gegen diese Übertherapien gewehrt – ich habe die Augen geschlossen und es geschehen lassen.

Dieser Artikel wurde im März 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Besinnliches zum Jahreswechsel

Die maximale Medizin ist eine Strafe geworden, für die weit verbreitete Unwilligkeit, ethische Fragen zu stellen und ehrliche Antworten zu geben.

Maria K. wäre im Februar 80 geworden. Seit 15 Jahren hatte sie Zucker, der ganz gut eingestellt war. Nichtsdestotrotz waren ihre Gefäße schwer verkalkt. Seit einiger Zeit funktionierten daher ihre Nieren nicht mehr richtig, und auch das Herz wurde immer schwächer. Sie war alt und krank.

Anfang Oktober kam sie mit einem Herzanfall ins Spital. Dort hat man schnell erkannt, dass das Herz Hilfe braucht und eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt. Aber der Grad der Erkrankung war nur mehr durch eine Bypassoperation behandelbar. Die Ärzte begannen nachzudenken, was man tun kann. Weder die Nieren, noch ihr Herz gaben Hoffnung, dass sie eine so große Herzoperation überleben werde. Ihre Zuckerkrankheit gab zudem Anlass zur Sorge: Werden die Wunden überhaupt heilen?

So lag Frau K. vorerst auf der Station. Sie war ansprechbar und auch orientiert, wie wenn ihre Verwirrung, eine jener grausamen Nebenwirkungen der Arterienverkalkung, täglich größer wurde. Den Ärzten war klar, wenn man nichts tut, wird Frau K. bald an einem Herzinfarkt sterben, wenn man sie jedoch operiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie entweder bei der OP oder auf der Intensivabteilung stirbt, deutlich größer, als dass sie überleben wird.

Rechtfertigt eine so kleine Hoffnung ein so großes Risiko? Darf man eigentlich untätig bleiben und dem Tod seinen Lauf lassen?

Sieben Tage nach ihrer Aufnahme entscheidet man sich für die OP. Man erklärt ihr, dass es eine schwere OP ist, vermeidet jedoch, sie so aufzuklären, dass sie die Alternativen – Sterben innerhalb der nächsten Tage, allerdings bei Bewusstsein und mit der Möglichkeit, ihre Dinge zu klären; oder OP, mit der sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass sie danach nicht mehr aufwacht – wirklich versteht. Sie glaubt, dass die OP ihre einzige Option ist und ihr helfen wird. Daher verabschiedet sie sich nicht von ihren wenigen verbliebenen Freunden.

Während sich eine Säge durch ihr Brustbein frisst, entnimmt ein anderer Chirurg aus ihrem Bein eine Vene. 30 Zentimeter lang ist der Schnitt an ihrem Bein, 25 Zentimeter der in ihrem Brustkorb.

Nach der OP wird sie nicht richtig wach und muss beatmet bleiben. In den nächsten acht Wochen wird sie kein einziges Mal ohne Maschine atmen. Die Ärzte halten sie in Tiefschlaf und versuchen ein Organversagen zu verhindern. Die Wunden heilen nicht. Spezielle Pumpen werden angebracht, um den Heilungsprozess zu fördern. Doch nichts hilft, die Wunden bleiben offen, ihre Nieren versagen, ihre Lungen halten sie kaum am Leben. Mitte Dezember erweist sich die Natur gnädig und lässt ihr Herz stehen bleiben.

Frau K. stirbt, ohne sich auf den Tod vorbereitet zu haben. Mehr noch, man muss hoffen, dass sie von den letzten Wochen nichts mitgekriegt hat. Doch niemand weiß, was Patienten träumen, hören oder empfinden, wenn sie künstlich schlafen!

Ist die maximale Medizin wirklich der richtige Weg? Oder ist weniger nicht oft viel mehr?

Die Behandlung von Frau K. hat 120 Tausend Euro gekostet, Geld, das man woanders hätte einsetzen können. Wäre es denn woanders besser einsetzbar gewesen?

Die Politik erzählt, dass die maximale Therapie die beste ist und die Frage nach den Kosten obszön. Nur bei den Ärzten, kann man hoffen, dass sie zwischen dem Machbaren und dem für Patienten Wünschenswerten abwägen. Leider erhalten sie dabei keine Unterstützung. Eher im Gegenteil. Wir verklagen sie lieber, wenn uns was nicht passt.

Dieser Artikel wurde im Dezember 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Ethik – ein alter Hut

Ethikdiskussionen werden wieder modern – und bleiben traditionell ungelöst.

Werte p.t. Leser! Erlauben Sie mir ausnahmsweise einen rein theoretischen Aspekt des Gesundheitssystems zu betrachten, bei dem es sich um die Frage dreht: Ist der einzelne mehr Wert als das Ganze oder ist das Ganze wichtiger als der einzelne?

Die Wertegemeinschaft Europa ist aus vagabundierenden Völkern entstanden, die sich niederließen und Nationen bildeten. Die Gesellschaft war militärisch. Eine militärische Gesellschaft kennt zwei wesentliche Ausprägungen: die Uniformierung, die eine Kollektivierung ist, und die strenge Hierarchie der Befehlskette.

Dass diese militärischen Wertvorstellungen noch immer existieren, kann man leicht erkennen. Staatoberhäupter verneigen sich vor nationalen Fahnen, die wie Feldzeichen von Soldaten gehalten werden. Im Wahlkampf werden die Parteisoldaten gestählt. Rededuelle finden statt und Strategien werden geschmiedet. All das zeigt, wie weit wir von einer zivilen Gesellschaft entfernt sind, und wie tief die alten Völker in unseren Knochen stecken. Solange die Völker wanderten, waren dieses Werte wichtig. Konnte man doch so die Sicherheit aller erhöhen, auch wenn man dazu die Freiheit des einzelnen einschränken musste.

Durch die Sesshaftwerdung und die Möglichkeit, „bauliche“ Sicherheitsmaßnahmen (Burgen und Stadtmauern) zu ergreifen, wurde die Bedeutung der Befehlskette und der Kollektivierung geringer. Die Fürsten und Herzöge brauchten für ihre Entscheidungen, sollten sie nicht nach Willkür aussehen, höhere Rechtfertigungen – und diese suchte man in Gott (Gottesgnadentum).

In den letzten tausend Jahren verbreitete sich das Christentum und brachte christliche Wertvorstellungen ein. Diese sind jedoch alles andere als kollektivistisch oder hierarchisch. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist eine individuelle Forderung. Und da jeder sein Leben als Geschenk Gottes betrachten muss, ist sein Wert direkt an Gott gebunden und damit „unbezahlbar“. Der einzelne kann es nicht verkaufen und hat darauf zu achten, das Beste aus dem Leben zu machen.

Ein solches Gerüst lässt es nicht zu, dass ein Mensch über das Leben des anderen entscheidet – außer (und dieses Argument steht auf sehr dünnen Beinen) ein Vertreter Gottes auf Erden interpretiert den Willen Gottes. Und um diese Vertreterrolle kämpfen seit tausend Jahren Priester und politische Eliten.

So haben wir beide Traditionen. Hier die eine, streng militärisch agierende Elite, von der das Volk erwartet, moralisch richtige Entscheidungen zum Wohle des Ganzen zu treffen und dafür „gehorsam“ (Parteitreue) gelobt. Und dort den Individualismus, der konsequent den einzelnen in die Pflicht nimmt und jeglichen Ungehorsam verlangt, wenn Entscheidungen mit dem Gewissen nicht vereinbart werden können. Dazwischen liegt wohl das weite Feld des Populismus.

Solange Kriege geführt wurden, konnte dieser Widerspruch der Werte unbeachtet bleiben. Doch heute, nach Jahrzehnten des Friedens, taucht er auf und bestimmt jeden Tag stärker das politische Geschehen. Und so schließt sich der Bogen: Wer darf auf welcher Basis sagen, was ein Mensch der Gesellschaft Wert sein muss? Wer darf festlegen, wie viel Freiheit dem einzelnen (z.B. über Steuern) genommen werden darf, um die Gesamtheit zu schützen? Und letztlich auch, wer darf entscheiden, wer welche Gesundheitsversorgung durch wen erhält? Weil wir aber konklusive Wertediskussionen verabscheuen, werden wir wohl keine Antworten finden.

Dieser Artikel wurde im November 2008 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.