Was ist wichtiger: Zahnspangen oder Kinder-Rehabilitation?

Eine der wichtigsten Aufgaben der Gesundheitspolitik ist, zu entscheiden, wem welche Ressourcen zur Verfügung stehen – also Prioritäten zu setzen.

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   80 Millionen Euro, so schätzt das Gesundheitsministerium, wird es kosten, alle Kinder mit Gratis-Zahnspangen zu versorgen. Aber natürlich auch nur, wenn es gelingt, den erwünschten Preisverfall bei den Verhandlungen mit den freiberuflichen Zahnärzten zu erreichen. Das Geld für diese Zahnspangen stellt der Bund den Krankenkassen zur Verfügung (also eine Sonderfinanzierung). Profitieren sollen davon 85.000 Kinder.

   Der Grund, warum diese Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, wird fallweise medizinisch (Folgeschäden und -kosten bei schiefen Zähnen), aber meist sozialpolitisch argumentiert; durch diese Ressourcen soll die „soziale Stigmatisierung unserer Kinder“ beendet werden.

   Nun, es ist in manchen Kreisen löblich, mit Gesundheitsausgaben Sozialpolitik zu betreiben, wie wenn es auch für die vorliegende Problematik in Österreich kaum Hinweise gibt, dass durch die derzeitige kieferorthopädische Versorgung eine soziale Stigmatisierung stattfindet. In anderen, europaweit betrachtet deutlich größeren Kreisen, geht es bei der Entscheidung, wer welche Ressourcen erhält, doch meistens um den Patientennutzen. Und da stellt sich schon die Frage, ob diese 80 Millionen nicht besser verwendet werden könnten?

   Was könnte man sich sonst noch so um diesen Betrag leisten? Das von Minister Alois Stöger und Vorgängern versprochene bedarfsorientierte Angebot stationärer Kinderrehabilitation für schulpflichtige Kinder würde jährlich etwa 18 Millionen kosten. Werden, wie ebenfalls schon länger versprochen, die ambulanten therapeutischen Angebote (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädische Therapie sowie Psychotherapie) ausreichend und ohne Selbstbehalt zur Verfügung gestellt, würde das jährlich etwa 40 Millionen Euro kosten. Von so einem Angebot würden jährlich etwa 70.000 Kinder profitieren. Und damit die Zuweisung zu den rehabilitativen Angeboten auch gut funktioniert, könnte man die Zahl der Kassenkinderärzte um ein Drittel erhöhen, was noch einmal 25 Millionen kostet.

   Macht zusammen 83 Millionen Euro, die ausschließlich in die Kinderversorgung – einem Schwerpunktthema, wie Minister Alois Stöger unter Verweis auf seinen Kindergesundheitsdialog nicht müde wird zu betonen – investiert würden. Die Frage ist, würden diese Maßnahmen einen höheren Patientennutzen erzeugen als die Gratis-Zahnspangen?

   Nun, dass wissen wir in Österreich offiziell natürlich nicht. Nicht, dass das nicht irgendwer ausrechnen könnte, nein, es ist schlicht für die Entscheidung, wo denn die Ressourcen hinfließen irrelevant. Selbst die Aufrechnung solcher Dinge gilt als unmoralisch, da man doch Patientengruppen nicht gegeneinander ausspielen darf. Leider aber sind Ressourcen, auch wenn es viele nicht hören wollen, real immer knapp. Die Entscheidung, wer welche kriegt, ist nun einmal zu stellen. In einem öffentlichen Gesundheitswesen werden diese Ressourcenallokationsfragen von der Politik beantwortet – und wie es aussieht, ist dort der Fang von Wählerstimmern wichtiger als der Patientennutzen.

„Wiener Zeitung“ Nr. 056 vom 20.03.2014  

Die Zwei-Klassen-Medizin – ein Systemversagen

Auch wenn die „Zwei-Klassen-Medizin“ eine Sauerei ist, reicht es nicht aus, sie einfach so zu benennen und per Gesetz verbieten zu wollen.

Ein solidarisches Gesundheitssystem sollte regulierend über Versorgungs- und Behandlungsebene schweben. Die Versorgung der Menschen mit Behandlungen sollte so allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, unabhängig von Vermögen oder – ein leidiges Thema – Beziehungen. Anders ausgedrückt, ist unser Gesundheitssystem, das von Unfreiheiten, Konkurrenzschutz und Planwirtschaft nur so strotzt, so ausgerichtet, dass marktwirtschaftliche Mechanismen nicht direkt am Patienten ankommen. Und das ist im Grunde auch gut, einfach deswegen, weil es eben evident ist, dass Gesundheitssysteme, die auf Marktmechanismen auf der Behandlungsebene setzen, schlechter abschneiden, als jene, die Wettbewerb höchstens bis in die Versorgungsebene vordringen lassen.

Die Aufgabe des Systems ist es, die Rahmenbedingungen so herzustellen, dass für alle die richtige Maßnahme zur rechten Zeit am rechten Ort in der richtigen Qualität erbracht wird. Nur so kann für jedes Individuum, als auch für die Solidargemeinschaft ein Mehrwert (ein mehr an Gesundheit pro eingesetzter Ressource) erzeugt werden. Damit ist jedoch eine schwere Aufgabe verbunden, nämlich die Definitionen, was denn nun richtig ist. Nur mit diesen Definitionen – und die müssen ehrlich sein – kann die Ressourcenverteilung sinnvoll umgesetzt werden. Diese Allokation der Mittel, die im Markt über Preisfindung erfolgt, ist hier also vom System zu lösen. Wenn sich das System davor drückt, dann wird in das entstehende Vakuum automatisch ein Preissystem eindringen – es ist einfach naiv zu glauben, dass man Markt und Wettbewerb einfach von oben herab verbieten kann!

Wir haben den Manchesterkapitalismus jetzt zwei Mal erlebt (einmal im 19ten Jahrhundert und jetzt im Rahmen des internationalen Finanzmarktes); bereits nach dem ersten Mal, vor fast hundert Jahren, wurde die soziale Marktwirtschaft – auch Neoliberalismus genannt – als Gegenthese entwickelt, die den urwüchsigen Markt als bösartig ausweist und daher für deren Regulierung (nicht Abschaffung, weil das geht nicht!) durch den Staat eintritt. Je weniger Markt erwünscht ist, desto strikteren Regeln muss er unterworfen werden. Wenn nun aber bereits 80 Prozent der Bevölkerung davon ausgehen, dass man nur dann optimal versorgt wird, wenn man Klasse-(Zusatz-)versichert ist, zeigt das, dass das System, auch wenn die Politik anderes behauptet, nicht mehr in der Lage ist, die Allokationsfrage zu lösen. Und daher sucht sich die optimale Versorgung, selbst wenn sie nur so empfunden wird, über private Versicherungen wieder einen Preis. Und weil die Politik das nicht wahrhaben will, werden Marktmechanismen aktiv, die unreguliert eintreten.

System-Entscheidungsträger können nicht einfach behaupten, alles sei gut. Sie können auch nicht einfach mehr Geld verlangen ohne zu sagen wieso, weshalb und mit welchem Ziel, sie können sich nicht hinter der allgemeinen Klausel „alle kriegen alles, und das gratis“ verstecken. Sie müssen ihren Mitgliedern immer und immer wieder beweisen, dass es für jeden einzelnen vernünftig ist, „sein Geld“ dem System, und nicht dem Markt anzuvertrauen. Erst wenn dieser Beweis fehlt, werden System und Finanzierung in Frage gestellt. Und weil es seit Jahren in der Reformdiskussion nur ums Geld geht, ist der Umkehrschluss, dass Beweise für das Funktionieren unseres Systems fehlen, zulässig. Und daraus folgt, dass der Markt dort wieder eintritt, wo eben das System, die Politik, versagt.

Dieser Artikel wurde im September 2011 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.

Allokationsproblem – noch ein Lehrstück

Vielleicht ist es Zeit, ein Thema zu verbreiten, dass hierzulande unbekannt ist, aber anderswo schon lange diskutiert wird – das Allokationsproblem.

Frau M. (78) lebt alleine. Die häufigen Besuche ihrer Tochter reichen aus, dass sie mit dem täglichen Leben keine Schwierigkeiten hat. Zudem kommen oft ihre Enkel, samt Ur-Enkel vorbei. Das freut sie und für diese hält sie sich auch fit.

Eines Tages kriegt sie Fieber. Der Hausarzt diagnostiziert eine Lungenentzündung und schickt sie ins Spital. Dort wird sie auf Pneumokokken-Pneumonie sieben Tage lang behandelt. Jeden Spitalstag lässt ihre intellektuelle Kraft nach.

Als sie wieder nach Haus kommt, ist sie verwirrt. Die Familie ist überfordert. Statt auf professionelle (und kostspielige) Hilfe zu setzen, versucht sie mit häufigeren Besuchen und der Übernahme von Tätigkeiten, die früher Frau M. selbst erledigt hat, zu helfen. Aber alles hilft nicht, Frau M. dämmert immer stärker ein. Sechs Monate später muss sie ins Heim, wo sie, schwer dement, nach drei Jahren stirbt.

Was ist passiert? Der Spitalsaufenthalt hat Frau M. aus der Bahn geworfen. Er stellte ein Life-Event dar, das, wenn nicht richtig behandelt (reaktivierende Pflege!), oft zur „Dekompensation“ führt; die durch eigenen Willen und Training hintan gehaltene Demenz tritt plötzlich auf.

Der initiale Spitalsaufenthalt hat etwa 4.000 Euro gekostet. Das Pflegeheim, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde von der zuständigen Sozialabteilung bezahlt und kostete bis zum Tod von Frau M. 36.000 Euro.

War das nötig? Nein.

Beginnen wir damit, dass der Hausarzt die Pneumonie zu Hause behandeln und den Spitalsaufenthalt, der ja Auslöser war, vermeiden hätte können. Kosten dafür vielleicht 1.000 Euro, die jedoch aktuell nur unzureichend vom Kassensystem bezahlt werden. Das System verdrängt gerade ältere Patienten ins Spital.

Dann die Pneumokokken-Pneumonie. Vielleicht hätte diese vermieden werden können, in dem die Ur-Enkel geimpft gewesen wären. Eine solche Impfung verhindert nämlich nicht nur Mittelohrentzündungen bei Kindern, sondern auch Lungenentzündungen bei der Großelterngeneration. In diesem Fall hätte man mit 300 Euro für die Impfung nicht einmal die 1.000 Euro für den Arzt aufbringen müssen.

Dann das Heim. Auch das wäre nicht nötig. Würde bedarfsorientierte Pflege genau so als Sachleistung zur Verfügung stehen wie das Spital, hätte Frau M. für ein paar Wochen täglich eine reaktivierende Pflege und allenfalls auch eine Haushaltshilfe erhalten, die zusammen vielleicht 3.000 Euro gekostet und den Verlauf hätten mildern oder gar verhindern können.

Natürlich ist das zu simpel. Schließlich bedeutet die Verhinderung eines Krankheitsverlaufes nicht, dass damit alles eitle Wonne ist. Aber vieles deutet darauf hin, dass es gerade bei alten Menschen viel bringt, wenn Spitalsaufenthalte vermieden werden. Und mehr noch, selbst wenn wir annehmen, dass die Behandlungskosten nicht gesenkt werden können, weil Frau M. später an einer anderen teuren Krankheit sterben würde, eines hätte wir auf jeden Fall eines erreicht: eine höher Lebensqualität, nicht nur für die Patientin, sonder auch für die Familie.

Um das zu erreichen müssen Ressourcen so verteilt werden, dass sie an der richtigen Stelle vorhanden sind. Aber, solange sie in bestehende und oft falsche Strukturen (etwa unnötige Spitäler) gesteckt werden, fehlen sowohl Motivation als auch die Ressourcen selbst, eine patientenorientierte Neuverteilung vorzunehmen. Das nennt man das Allokationsproblem, das nur vom System gelöst werden kann.

Dieser Artikel wurde im November 2010 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.