Menschen- und Weltbilder im Krankenkassensystem

  Worum geht es beim Streit um die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung?

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   Die telefonische Krankschreibung war eine jener Prozessinnovationen, die durch die Pandemie umgesetzt werden konnten.

   In vielen Länder ruft man als Arbeitnehmer den Arbeitgeber an und sagt, man sei krank – Punkt. Sollte ein Arbeitgeber meinen, dass jemand ungebührlich „krankfeiert“, kann er einen Arzt vorbeischicken oder den Mitarbeiter rauswerfen – warum also einen Arztbesuch vorschreiben?

   Unsere Form des Krankschreibens (mit persönlichem Ordinationsbesuch) ist international kein sehr weit verbreitetes Modell. Es verbraucht viele Ressourcen, angefangen von den Wegzeiten der Patienten über die Organisation in den Ordinationen bis hin zum ganzen Administrationsaufwand – teuer und nutzlos.

   Da kommt das wohlklingende Argument, wer sich krank fühle, sollte schon einen Arzt sehen. Ernsthaft? Wenn ich ein bisschen Fieber habe, soll ich zum Arzt? Übelkeit – Arzt? Grippaler Infekt – Arzt? Und das sofort? Wir haben ja keine Daten, aber können aus anderen Ländern, wo kein Arztbesuch nötig ist, Analogieschlüsse ziehen – und da zeigt sich halt, dass dort die Menschen nicht kränker sind oder kürzer leben und auch nicht länger im Krankenstand sind. Die meisten Krankschreibungen sind eben durch selbstlimitierende Krankheiten bedingt, die mit ein bisschen Schonung auch ganz ohne Arzt heilen. Die Krankschreibung ohne persönlichen Ordinationsbesuch auf Basis einer telemedizinischen Begutachtung wäre also etwas gewesen, um unsere überlasteten Hausarztordinationen zu entlasten – ganz ohne schädliche Nebenwirkung.

   Allerdings, und da liegt der Haken, wurde sie nicht eingeführt, weil es sinnvoll wäre, sondern um Ansteckungen in Wartezimmern (warum müssen die eigentlich so voll sein?) zu vermeiden – und folgerichtig abgeschafft, sobald die Ansteckungsgefahr gering wurde. Warum? Es sind die Menschenbilder der Entscheidungsträger in den dominierenden Institutionen, die allesamt Monopol-Vertretungsansprüche haben, die im Wesentlichen aus der Zwischenkriegszeit stammen und sich bis heute halten.

   Da geht es um tendenziell „faule Arbeiter“, denen man genau vorschreiben muss, was sie zu tun haben, und noch genauer kontrollieren, ob sie das eh machen (Taylorismus); und um tendenziell „ausbeuterischen Arbeitgeber“, denen man möglichst wenige Freiheiten geben darf, weil sie nichts anderes im Kopf haben, als ihre Arbeitnehmer auszubluten, um das eigene Kapital anzuhäufen (Marxismus); und natürlich um Ärzte, die geldgierig allesamt das „System“ nur ausnutzen wollen, um die eigenen Taschen zu füllen, und dabei den Hals nicht vollkriegen – und das als gerechten Lohn verkaufen (Universalismus).   

Diese Weltbilder schwingen bei jeder Entscheidung im Kassensystem mit. Deshalb sitzen alle einander misstrauisch gegenüber und verhandeln, aufbauend auf den Traditionen, niemals um Prozessinnovationen. So haben sie es geschafft, dass wir in Europa so ziemlich die meisten Arztkontakte, Spitalsaufenthalte und – als Folge der Unvernunft – Pflegefälle haben. Lieber alles so lassen, wie es ist, als dass der andere einen Vorteil hat.

„Wiener Zeitung“ vom 26.08.2021    

Klassenkampf im Kassenkampf

   „Unsere Kasse“ gehört ganz offensichtlich nicht uns, sondern „unseren Kammern“.

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   Eigentlich ist es gut, dass unsere Krankenkasse, die ja jetzt Österreichische Gesundheitskasse heißen wird, sich selbst darstellt. Zu lange hat kaum jemand darüber nachgedacht, was „unsere Kasse“ ist. „Unsere Kasse“ gehört uns, und wir verwalten sie selbst – ohne Einmischung der Politik. Wir wählen aus unseren Reihen einen politikunabhängigen Selbstverwaltungskörper – theoretisch demokratisch! Allerdings weiß das kaum jemand, und noch weniger wissen, wie sie mitstimmen können.

   Seit jeher haben uns paternalistische Politiker die Last der Stimmabgabe abgenommen. Sie nannten das Sozialpartnerschaft. Es sind „unsere Kammern“, die sich wohlwollend um „unsere Kasse“ kümmern: für Unselbständige die Arbeiterkammer, für Selbständige die Wirtschaftskammer. Bei den Kammerwahlen können einige von uns, bei weitem nicht alle, Fraktionen wählen. Kaum jemand wird die FSG oder den Wirtschaftsbund wählen, weil die sich so toll um das Kassensystem kümmern – und doch, es sind die hier siegenden Fraktionen, die dann „ihre“ Vertreter in „unsere Kasse“ entsenden, gerade so, als ob sie Teil des Pflicht-Kammersystems wäre.

   Es ist ganz offensichtlich, dass „unsere Kasse“ nicht uns gehört, sondern „unseren Kammern“, deren Legitimität nicht ohne Grund seit Jahrzehnten hinterfragt wird.

   Und weil eben in „unserer Kasse“ kein Demokratieprinzip besteht und die Kosten zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt werden, haben sich „unsere Kammern“ die Macht aufgeteilt. Der Streit, ob die Gewichtung der Macht nach der Zahl der Versicherten oder der Kostenaufteilung erfolgen sollte, wurde nur halbherzig geführt – denn würden die Kämmerer über das Demokratieprinzip in „unserer Kasse“ nachdenken, müssten sie Sozialwahlen einführen, also uns erlauben, direkt mitzubestimmen. Doch keiner hat je ernsthaft darüber nachgedacht, Macht und Einfluss der Kammern zu beschränken.

   Die Kassenfusion folgte diesem Prinzip, aber sie bringt neue Abstimmungswege und deutlich verkleinerten Gremien. Und da die Verkleinerung hauptsächlich zu Lasten der AK-Funktionäre ging, sind diese sauer und klagten vor dem VfGH – angeblich, weil sie sich schützend vorn „uns“ stellen wollten, um eine „feindliche Übernahme“ durch „die Wirtschaft“ zu verhindern.

   Der VfGH hat erkannt, dass es keine bedenklichen Machtverschiebungen gibt, sondern die Regierung nur eine neue Organisation durchgeführt hat. Aber weil AK und ÖGB in Ihren Spitzen de facto nicht unparteiisch sind, ist dieser Spruch eine politische Niederlage, nicht nur einfach eine Klarstellung, wie weit Politik sich in „unsere Kasse“ einmischen darf.

   Und so tritt der eigentliche Konflikt offen zu Tage: der Klassenkampf als institutionalisierte Betriebskultur des Kassensystems. Christoph Klein von der AK meinte wörtlich: „In der ÖGK wird eine Minderheit von 160.000 Unternehmern über eine Mehrheit von 7,2 Millionen Versicherte herrschen.“ Und der ÖGB verlangt von der nächsten Regierung, dass den Arbeitnehmern „ihre Kasse“ wieder zurückgegeben wird.

Wir sollten uns unsere Kasse zurückholen – über Sozialwahlen, und ohne kämmerlichen Klassenkampf.

„Wiener Zeitung“ vom 02.01.2020  

Kühle Rechner oder machthungrige Funktionäre?

Die Sozialpartner übernehmen die Macht im Gesundheitssystem – und haben dabei nicht einmal ihr eigenes Geschäft im Griff. Wohin führt das?

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   Wer liest schon ein technokratisches Papier, das von irgendwelchen Vereinen geschrieben wird? Kaum jemand! Mit diesem Kalkül sind wohl auch die Autoren des Reformvorschlags „Zukunftssicherung für die soziale Krankenversicherung“ vorgegangen. Anders ist es nicht zu erklären, da das, was da veröffentlicht wurde, nicht gerade von hoher Kompetenz zeugt. Und trotzdem ist es die Basis einer Reform.

   Nichtsdestotrotz gibt es einige, die sich mit solchen Papieren auseinandersetzen. Dazu gehören unter anderen die Mitglieder der kleinen aber feinen Österreichischen Public Health Gesellschaft. Und es ist nicht verwunderlich, dass diese Kreise, die halt eher denken als plaudern, schon bei Bekanntwerden des oben erwähnten Papiers nur ein Kopfschütteln übrig hatten.

   Da ist einmal eine Darstellung der Finanzströme. Abgesehen davon, dass weder Quellen- oder auch nur Jahresangaben zu finden sind, sind die Zahlen alles andere als schlüssig. Das beginnt damit, dass offenbar alle irgendwie im Vorhinein Geld haben. Steuer- und Beitragszahler, die das Geld bereitstellen, kommen gar nicht vor. Ebenfalls wird nicht dargestellt, wofür das Geld ausgegeben wird, also für Krankenhäuser oder Ärzte etwa. Ausgewiesen wird nur, wie es hin und her geschoben wird. Und siehe da, die dargestellten Institutionen wie Kassen oder Länder schieben das Geld so lange hin und her – wenigstens aus Sicht der Sozialpartner – bis die Länder 4,4 Milliarden Euro Einnahmen ohne Ausgaben haben, während die „armen“ Sozialversicherungen 2,7 Milliarden mehr ausgeben als sie einnehmen.

   Noch skurriler wird es, wenn man all das Hin- und Hergeschiebe summiert, dann werden es alleine durch die Bewegung des (Monopoly)Geldes innerhalb eines Jahres 430 Millionen Euro mehr!? Eigenartige Vermehrung – wird da spekuliert oder einfach falsch gerechnet?

   Doch nicht nur die Zahlen sind unschlüssig. Im Kapitel Spitäler wird festgehalten, dass es im EU-Durchschnitt 17,14 Aufnahmen in Akutkrankenhäusern pro 100 Einwohner gab. Für Österreich lag dieser Wert bei 26,09 und damit um 52 Prozent über dem EU-Schnitt. Soweit so gut. Ein bisschen weiter unten auf derselben Seite liest man dann voll Erstaunen, dass Verlagerungen vom Spitalsbereich in den kassenfinanzierten Bereich stattfinden. Was jetzt? Rein oder raus? Oder beides? Natürlich stimmt das nicht für das Hanusch-Krankenhaus, das einzige Krankenhaus, das von einem Sozialpartner (Wiener Gebietskrankenkasse) betrieben wird. Denn wie man nachlesen kann, entlastet das besagte Krankenhaus – offenbar als einziges Österreichs – das Land Wien in seinem Versorgungsauftrag. Von diesem wird hiefür allerdings nur unzureichend Kostenersatz geleistet. Auch eine einzigartige Situation?

   Wer nun hofft, es gäbe ein ausführlicheres Papier, das dem Ganzen zugrunde liegt, der wird enttäuscht. Es gibt nichts, zumindest nichts, das man als Bürger zu sehen bekäme. Aber all diese Widersprüche sind offenbar vollkommen egal; denn „kreative Buchführung“ scheint ja in „gewerkschaftseigenen“ Einrichtungen nicht unüblich zu sein.

   Und so verwundert es nicht, dass es den ansonsten eher unpolitischen Mitgliedern der oben erwähnten Gesellschaft sogar ein mitleidiges Wort entlockt: „Mir tun der Bundeskanzler und die Frau Minister leid, mit so unklaren Phrasen werden die gefüttert und dürfen dann dafür die Verantwortung übernehmen . . .“ Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gewerkschaft und Wirtschaftskammer doch eher an der Macht als an der Sache interessiert sind.

„Wiener Zeitung“ Nr. 99 vom 20.05.2008