Steuersubventionierte Wahlarzt-Ordinationen

Marktmechanismen übernehmen zusehends die Steuerung im Gesundheitssystem – aber ganz anders, als so mancher jetzt zu verstehen meint.

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   Die ganze Welt, nun, eigentlich nur dort, wo es ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen gibt, entscheidet sich, dieses entweder über Sozialversicherungen (beitragsfinanziertes Bismarck-Modell) oder über öffentliche Behörden (steuerfinanziertes Beveridge-Modell) zu organisieren.

   Eine Aufteilung in einen Bismarck- und einen Beveridge-Teil macht niemand; niemand außer – genau – Österreich. Naja, das stimmt nicht ganz, auch Griechenland meint so einen Sonderweg gehen zu müssen.

   Warum man sich überall, wie von der WHO dringendst empfohlen, entweder für das eine oder das andere entscheidet, hängt damit zusammen, dass so das Gesundheitssystem aus einer Hand finanziert wird. Die „Finanzierung aus einer Hand“ verhindert, dass zwei Akteure widersprüchliche Strategien verfolgen, sich Kosten zuschieben und blockieren können. Ein Spiel, das uns nur allzu bekannt ist.

   Bis dato hat dieses Spiel zwischen den – für Kassenärzte zuständigen – Kassen und den – für Spitäler zuständigen – Ländern zum zerfranstesten ambulanten Versorgungssystem der Welt geführt. Von Spitalsambulanzen und Erstversorgungsstationen, Ambulatorien, Wahlärzten, Kassenärzten und neuerdings auch PHCs (Primary-Health-Care-Einrichtungen) machen im Grund alle, was sie wollen. Die einen nach den Ideen der 36 Krankenkassen, die anderen nach den der neun Länder, die dritten überhaupt nur nach völlig eigenen Vorstellungen (etwa die Wahlärzte). In diesem Chaos werden Versorgungslücken größer und Kosten höher.

   Doch statt diesen Wahnsinn zu reformieren, werden immer mehr Flicken aufgesetzt. Dass in vielen Gemeinden bereits Steuergeld in die Hand genommen wird, um Kassenärzten bei der Finanzierung der Ordinationen zu helfen, die eigentlich über die Kassenhonorare abgedeckt sein sollten, war da nur der Anfang. Der Dammbruch wird jetzt aus Tirol vermeldet.

   In Wildschönau, einem Bezirk mit 4211 Einwohnern, in dem es der Krankenkasse nicht gelingt, die zwei verwaisten Kassenhausarztstellen neu zu besetzen, werden jetzt durch den Bürgermeister zwei Wahlärzte angesiedelt. Wird ein Wildschönauer dort behandelt, muss er, wie üblich, das Honorar des Wahlarztes zuerst vorstrecken. Ebenfalls wie üblich erhält er einen Teil (im Schnitt etwa 60 Prozent) von der Kasse zurück. Absolut neu ist, dass die verbleibende Differenz (etwa 40 Prozent) nun von der Gemeinde übernommen werden – mit Steuergeld.

   Ein Mix aus Beveridge und Bismarck in einer Ordination, die nach Marktgesetzen funktioniert.    Das mag auf den ersten Blick irgendwie nicht so blöd oder sogar lösungsorientiert klingen – aber ist das so? Nein! Denn jetzt haben wir ein Beveridge-Modell, das in sich in Bund, Länder und Gemeinden fragmentiert ist, und ein Bismarck-Modell, das in 36 Kassen und neun Ärztekammern zerfällt. Zusammengehalten wird das durch marktkonform agierende Wahlärzte. So ein Modell hat keine Möglichkeit, Anreize willentlich so zu setzen, dass der richtige Patient zur richtigen Zeit beim richtigen Arzt ankommt. Aber genau das sollte ein öffentliches, solidarisches System anstreben. Ohne dieses Ziel ist ein solidarisches System nicht besser als der reine Markt, nur teurer

„Wiener Zeitung“ Nr. 151 vom 06.08.2015   

Abo-Literaturservice „Social Health Insurance vs. Tax-Financed Health Systems—Evidence from the OECD“

Weltbankstudie, 2009, aus dem Bereich Gesundheitssystemforschung. Festgestellt wird, dass in einigen Bereichen (z.b. Deckungsgrad, Wirkung auf den Arbeitsmarkt, Veränderunge des Leistungsspektrums, Einbau von Präventionsprogrammen …) steuerfinanzierte Systeme den Beitragsfinanzierten überlegen sind. Bei vielen Bereichen liegen sie gleich auf. Bei den Outcome-Daten liegen beide ebenfalls gleich auf, wenn es auch Hinweise gibt, dass auch hier steuerfinanzierte Systeme besser sind.

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Eine merkwürdige Diskussion

In den meisten gesundheitspolitischen Themen sind wir, wenn überhaupt, auf dem Niveau der 1970er Jahre. Das wird zunehmend skurriler.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, wird aktuell in Österreich darüber diskutiert, ob das Beveridge- oder das Bismarckmodell besser ist.

Beim Bismarckmodell geht es darum, dass Krankenkassen für die Krankenversorgung zuständig sind. Diese Kassen liegen in den Händen von sozialpartnerschaftlichen Sozialversicherungen, die sich ausschließlich aus Beiträgen finanzieren. Im Beveridgemodell sind es demokratisch legitimierte Politiker, die um die Krankenversorgung sorgen müssen und dafür Steuern verwenden.

Wer sich da nicht auskennt, soll sich nicht ärgern, da die Diskussion selbst unter Akademikern obsolet ist; und zwar deswegen, weil es international keine reinen Formen mehr gibt. Alle haben sich beim anderen was abgeschaut und es gibt nur mehr Hybride. Ernsthafte Diskussionen beschäftigen sich heute daher auch nur mit der Frage, welche Mischung wohl die vernünftigste wäre. Aber in Österreich lassen das die mächtigen Sozialpartner nicht zu, und sprechen – wissend oder, was schlimmer wäre, unwissend – weiter von der reinen Lehre!

Von einem reinen Bismarckmodell zu sprechen ist aber schon deswegen obsolet, weil die Krankenversorgung hierzulande sich ausschließlich mit der kurativen Behandlung beschäftigt und andere Bereiche längst „ausgegliedert“ wurden. So haben sich die Kassen 1976 aus der Pflege zurückgezogen, aus der stationären Versorgung 1985, aus den Spitalsambulanzen 1995, die Rehabilitation gehört der Pensionsversicherung, die Prävention Bund und Ländern.

Noch merkwürdiger wird die Argumentation der reinen Lehre, wenn man genau schaut. Denn dann kann man feststellen, dass die Kassen längst nicht mehr beitragfinanziert sind. Natürlich sind Beiträge die wichtigste Einnahmequelle, aber bei weitem nicht ausschließlich.

In Summe nahmen die Kassen 2007 12,8 Mrd. Euro ein. Davon entfielen nur 10,7 Mrd. auf Beiträge. Neben e-Card- und Rezeptgebühren u.ä. stammte mit 1,1 Mrd. Euro der Großteil der Differenz aus Steuermitteln. Doch ist das nicht alles, denn auch in den Beiträgen steckt eine ganze Menge Steuergeld. Hier waren mit 1,3 Mrd. Euro der größte Brocken die Hebesätze (eine Art steuerfinanzierter virtueller Arbeitgeberbeitrag für Pensionisten, die ja keinen Arbeitgeber mehr haben). Insgesamt stammten fast 3 Mrd. Euro der Einnahmen aus Steuern und gerade einmal 9 Mrd. Euro sind wirklich „reine Beiträge“.

Wenn man nun betrachtet, dass die öffentlichen Ausgaben in unserem Gesundheitssystem 20 Mrd. Euro ausmachen, dann ist also nicht einmal mehr die Hälfte beitragsfinanziert. Von einem „reinen Bismarckmodell“ ist längst nichts mehr übrig. Und das unsere Kassenbeiträge verglichen mit Deutschland, in dem Bismarck noch viel „sauberer“ gelebt wird, halb so hoch sind, wird damit auch verständlich.

Weil aber die Entscheidungsträger bei der reinen Lehre bleiben wollen (hauptsächlich um die eigene Macht zu erhalten), ist es unmöglich, dass zwischen dem steuerfinanzierten und dem beitragsfinanzierten Teil ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Die damit verbundenen Schnittstellenprobleme führen zwar, neben echten Qualitätsproblemen, zu enormen Mehrkosten, aber solange diese Lücke durch Selbstbehalte gefüllt und der Mythos des besten Systems aufrecht erhalten werden kann, wird es den Mächtigen kaum nötig scheinen, über ihren Schatten zu springen und sich auf ein „neues“ System zu einigen – oder wenigstens einmal ehrlich darüber zu diskutieren.

Dieser Artikel wurde im Jänner 2009 in ähnlicher Form in der Wiener Zeitung veröffentlicht.